# taz.de -- Historiker über Wehrmachtsmassaker: „Deutsche müssen Zeichen setzen“
       
       > Der deutsch-griechische Historiker Hagen Fleischer über ungesühnte
       > Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland und ihre Leugnung in
       > Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Ein Teil der Grabstätte Familie Kritsimas auf dem Friedhof von Komeno.
       
       taz: Herr Fleischer, heute vor 70 Jahren massakrierten Wehrmachtssoldaten
       in Kommeno 317 Zivilisten. Warum sind die mannigfachen Verbrechen der
       Wehrmacht in Griechenland hierzulande bis heute unbekannt? 
       
       Hagen Fleischer: Die Massaker im tschechischen Lidice und im französischen
       Oradour haben einen Platz im kollektiven Gedächtnis, weil sie zum mittel-
       und westeuropäischen Kulturkreis zählen. Ganz Griechenland, die 100
       griechischen Lidices, ist jedoch ein weißer Fleck auf der Europakarte des
       NS-Terrors. Ich erinnere mich an mein Doktorandenkolloqium an der FU
       Berlin, 1970. Als ich erzählte, dass ich mein Dissertationsthema geändert
       habe – von der deutschen Besatzung Dänemarks zur Besatzung Griechenlands –,
       war das Staunen groß: „Griechenland? Da waren wir auch?“ Das waren
       Historiker, die vor der Promotion standen!
       
       Was überwog – Unwissen oder Verdrängung? 
       
       Es gab und gibt beides, insbesondere gezielte Leugnung. Die Akten des
       Auswärtigen Amts sprechen bis zu den sechziger Jahren fast nur von
       „angeblichen“ Kriegsverbrechen. Bezeichnend war der Fall des Berliner
       Rechtsanwalts Max Merten, der an der Deportation von 50.000 Juden aus
       Saloniki nach Auschwitz beteiligt war. Griechische Behörden nahmen ihn 1957
       fest, er wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Daraufhin beriet man in
       Bonn über „Repressalien gegen Griechenland“. Der Vorschlag – in der Sprache
       der Besatzer, obwohl weniger blutig gemeint – kam vom
       CDU-Vize-Außenminister (und Ex-NSDAP-Mitglied) Karl Carstens, der später
       Bundespräsident wurde. Auf massiven deutschen Druck ließen die Griechen
       Merten 1959 frei. Übrigens war Athen die einzige alliierte Hauptstadt, in
       der bundesdeutsche Diplomaten im Wehrmachtsjargon sprechen konnten.
       
       Warum? 
       
       Man behauptete etwa, die Wehrmacht habe in Notwehr gegen „kommunistische
       Banditen“ gehandelt. Unvorstellbar in Belgrad oder Paris. Aber in Athen war
       das auch die Sprachregelung der konservativen Regierung. Im besetzten
       Griechenland 1941–44 war nämlich die weitaus stärkste
       Widerstandsorganisation die von den Kommunisten kontrollierte EAM, die dann
       im Bürgerkrieg 1946–49 gegen eine Mitte-rechts-Koalition verlor. Danach
       wurden sogar die ehemaligen Kollaborateure der Besatzer in den nationalen
       Konsensus der Sieger integriert, wohingegen die von den Deutschen
       zerstörten Dörfer im Verdacht linker Gesinnung standen. Die Opfergruppen
       hatten nur eine schwache Lobby, im Gegensatz zu Frankreich etwa, wo es ein
       Ministerium für die Opfer von Krieg und Besatzung gab. In Griechenland war
       seriöse Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang tabu.
       Der Erste, der es ab 1980 wagte, an griechischen Hochschulen darüber zu
       lehren, zunächst als Gastdozent, war ausgerechnet ein Deutscher: Ich! In
       keinem anderen Land denkbar …
       
       Hat sich eine deutschen Regierung jemals für die Verbrechen entschuldigt? 
       
       Richard von Weizsäcker besuchte 1987 auf meinen Vorschlag hin die zentrale
       Exekutionsstätte in Athen, wo allein am 1. Mai 1944 200 Griechen erschossen
       wurden. Er betonte „kein Mensch, zumal kein Deutscher“ könne dort stehen,
       „ohne von der Botschaft dieses Ortes tief berührt zu sein“. Das
       beeindruckte die Griechen und gewann Freunde. Im April 2000 empfand
       Johannes Rau in Kalavryta „Schmerz und Trauer“. Doch vermieden alle
       Regierungsvertreter das schwere Wort Entschuldigung. Über die Jahrzehnte
       gab es Fortschritte im Verhalten des offiziellen Deutschland. In den
       fünfziger und sechziger Jahren mied man die Opferorte. Das Auswärtige Amt
       warnte Touristen gar, dorthin zu fahren. Ganz Kreta, wo die Wehrmacht
       besonders brutal gehaust hatte, galt als No-go-Area. Jetzt sind bei fast
       allen Gedenktagen Vertreter der deutschen Botschaft anwesend. Manche
       Griechen sprechen bereits von einem Opferort-Tourismus.
       
       Griechische Studien behaupten, Deutschland schulde Athen 162 Milliarden
       Euro für Kriegsschäden. Ist das seriös? 
       
       Nein. Manche Forderungen sind sogar noch höher. In Politik und Presse
       regiert die Logik: Wer die höchste Zahl nennt, ist der größte Patriot. Doch
       trotz lückenhafter Quellenlage steht fest, dass Griechenland die höchsten
       Verluste aller nichtslawischen Länder hatte. Allein 1941/2 sind etwa
       100.000 Zivilisten verhungert. Beträchtliche Mitschuld hatte die deutsche
       Besatzung, die das Land ausplünderte.
       
       Wie sind deutschen Regierungen nach 1949 mit Forderungen nach finanzieller
       Entschädigung umgegangen? 
       
       1961 zahlte die Bundesrepublik auf internationalen Druck „Wiedergutmachung“
       für bestimmte Opfergruppen an alle Weststaaten, an Griechenland 115
       Millionen D-Mark. Ansonsten abweisend. Dabei gab und gibt es Möglichkeiten
       für Entschädigungen, ohne dass die Deutschen ihre Position, keine
       Reparationen zu zahlen, aufgeben müssen. Etwa die Zwangsanleihe bei der
       griechischen Zentralbank: Sogar das NS-Regime hatte Anfang 1945 berechnet,
       dass die „Reichsschuld gegenüber Griechenland“ 476 Millionen Reichsmark
       beträgt. Das wären heute ohne Zinsen umgerechnet etwa 6 bis 7 Milliarden
       Euro. Schröder und Fischer signalisierten vor 1998 an Athen, sie wären
       „offen“ für einen Kompromiss. Als Rot-Grün regierte, lehnte man
       Verhandlungen kategorisch ab. Der griechische Vertreter sagte mir damals:
       „Als wären wir gegen eine Glaswand geprallt.“
       
       Als CDU-Kanzlerin Merkel in Athen war, hat sie kein Wort über die
       NS-Besatzung verloren. Würde es helfen, wenn sie zeigt, dass sie die
       moralische deutsche Verpflichtung kennt? 
       
       Von Merkel haben die Griechen mehr europäische Solidarität erwartet, in der
       Art von Brandt, Schmidt und Kohl. Als antigriechische Schlagzeilen in
       rassistischen Stereotypen schwelgten, hat sich Merkel versteckt – auch aus
       wahltaktischem Opportunismus. Hätte sie sich früher zum Verbleib von Athen
       im Euro bekannt, wären die Zinsen von der internationalen Spekulation nie
       so hochgejagt worden. Das wäre beide Seiten billiger gekommen. In puncto
       Vergangenheit: Viele Griechen halten die deutsche Mauertaktik für reine
       Machtarroganz. Deutschland hat sich mit dem Recht des Stärkeren nie mit den
       Griechen an den Verhandlungstisch gesetzt. Das deutsche Argument, man
       transferiere doch über die EU Gelder auch nach Athen, ist hohl. Solche
       Finanzspritzen verbessern die Aufnahmefähigkeit für deutsche Exporte –
       selbst in Ländern wie Irland oder Portugal, wo nie deutsche Soldaten
       gewütet haben.
       
       Wie ist das Bild Deutschlands in Griechenland 2013? 
       
       Deutschland ist in Griechenland derzeit unbeliebter als die Türkei. Dass
       unsere Diplomaten zu Gedenkfeiern kommen, wäre vor dreißig, vierzig Jahren
       als Symbol wahrgenommen worden. Heute ist das zu wenig. Die Griechen fühlen
       sich brüskiert, von den Jahrzehnten des Leugnens und Abwehrens. Viele
       klagen, Deutschland warte, bis der letzte Überlebende der Massaker stirbt.
       Das alles aber betrifft die Regierungspolitik, nicht den individuellen
       Besucher.
       
       Also ist es 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs endgültig zu spät für
       eine Art Entschädigung, für eine Einigung? 
       
       Es ist unrealistisch, dass Berlin an Athen alle Schuld und Schulden einer
       verbrecherischen Besatzungspolitik begleicht. Viele Forderungen aus Athen
       sind zudem realitätsfremd. Aber bei beiderseitigem gutem Willen gibt es
       Wege. Finanzminister Schäuble hat bei seiner Athener Pressekonferenz
       hinsichtlich der vom NS-Regime anerkannten Schulden Chancen für
       Verhandlungen angedeutet. War das ehrlich gemeint, wäre bereits viel
       gewonnen.
       
       Worüber soll genau verhandelt werden? 
       
       Über die historische Berechtigung. Über die praktischen Möglichkeiten eines
       Kompromisses – von Infrastrukturprojekten bis zu Stipendien für die
       Opfergemeinden. Über Wege zum Abbau der deutscherseits fast totalen
       Ignoranz: etwa durch Bildung einer gemeinsamen Schulbuchkomission, wie es
       mit den anderen einstigen Kriegsgegnern der Fall ist. In deutschen
       Schulbüchern steht lediglich, dass die Wehrmacht 1941 einmarschiert ist,
       gelegentlich, dass sie Ende 1944 wieder abzog. Was die Deutschen dazwischen
       machten, bleibt der Fantasie überlassen. Vielleicht haben sie nur in der
       Ägäis gebadet … Es ist an der Zeit, deutscherseits endlich ein sichtbares
       Zeichen zu setzen.
       
       16 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Stefan Reinecke
       
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