# taz.de -- Der deutsche Staat und der NSU: Land im Ausnahmezustand
       
       > Die Nichtaufklärung der NSU-Morde zeigt, wie der „Tiefe Staat“ in der
       > Bundesrepublik funktioniert – samt seiner Wasserträger im Parlament.
       
 (IMG) Bild: Landgericht München: Im NSU-Prozess wird Thomas R. alias „Corelli“ nicht mehr als Zeuge auftreten
       
       „Oh Herr“, heißt es in einem 1905 erschienenen Gedicht Rainer Maria Rilkes,
       „gib jedem seinen eignen Tod.“ Einen Tod ganz eigner Art fand kürzlich ein
       Mann, der unter dem Tarnnamen „Corelli“ bekannt war und Ende März
       plötzlich, aber kaum unerwartet, tot in seiner Wohnung in Paderborn
       aufgefunden wurde.
       
       Als Todesursache gab die Polizei den Klassiker aller unaufgeklärten und
       nicht aufzuklärenden Todesfälle bekannt: einen „unentdeckten“ Diabetes. Ein
       veröffentlichter Obduktionsbericht liegt nicht vor.
       
       Tatsächlich hieß „Corelli“ Thomas R. und war einer der bestbezahlten
       V-Leute des Bundesamtes für Verfassungsschutz in der rechtsextremen Szene.
       Dass sowohl die Polizei als auch das Bundesamt für Verfassungsschutz bei
       der Aufklärung mauern, erstaunt nicht. Sollte doch „Corelli“, der eng mit
       dem Kopf des NSU, Uwe Mundlos, bekannt und in einem Zeugenschutzprogramm
       untergebracht war, demnächst zum NSU befragt werden.
       
       „Corellis“ Tod beschert jener größtmöglichen Koalition aus CDU, SPD und –
       ja! – selbst ernannter Bürgerrechtspartei Die Grünen eine Atempause. Sind
       es doch die Grünen, die vor allem in Stuttgart, wo sie regieren – aber auch
       seinerzeit im entsprechenden Bundestagsausschuss in Berlin–, alles
       daransetzen, eine rückhaltlose Aufklärung zu hintertreiben. Frauen und
       Männer in allen Parteien bestätigen wie immer als Ausnahmen die Regel.
       
       Ursachen und Hintergründe dieser Strategie zu erfahren ist jedoch wichtiger
       als die kriminalistische Frage nach den wahren Todesursachen „Corellis“.
       Tatsächlich mehren sich seit Längerem die Indizien dafür, dass sich hinter
       dem mörderischen und rassistischen Kriminalfall NSU eine schleichende
       Staatskrise verbirgt. Feuilleton und Kulturkritik arbeiten sich derzeit
       daran ab, die Gefährdung bürgerlicher Freiheiten im Zeitalter der
       Digitalisierung zu verstehen.
       
       ## Analoge Gefährdung
       
       Der deutsche NSU-Skandal macht im Gegensatz zur NSA deutlich, wie eine
       solche Gefährdung der bürgerlichen Freiheiten im noch analogen Zeitalter
       vor sich geht: mit Leichen, ängstlichen Volksvertretern sowie
       verselbstständigten Staatsschutzbehörden jenseits jeder politischen
       Kontrolle; vor allem aber mit einer Bundesregierung, die zwar immer wieder
       beteuert, den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ reformieren zu
       wollen, diesen Ankündigungen jedoch keinerlei Taten folgen lässt.
       Innenminister de Maizière beherrscht den Habitus eines zumal stimmlich
       beruhigenden Tonfalls; darüber hinausgehende Reformen des BfV sind nicht
       erkennbar.
       
       Die nicht anders als kriminell zu bezeichnende Energie aber, mit der die
       Sicherheitsexekutive und ihre parlamentarischen Wasserträger die Aufklärung
       des NSU-Skandals verhindern wollen, gefährdet die bundesrepublikanische
       Verfassung, unterhöhlt das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und
       schafft eine Sphäre jenseits des Rechtsstaates. Beim Nato-Partnerland
       Türkei ist treffend von einem „tiefen Staat“ die Rede, einer jenseits der
       oberflächlich funktionierenden modernen Verwaltung wirkenden Koalition aus
       Militär, Geheimdienst und Polizei.
       
       Die deutsche Situation stellt sich noch dramatischer dar, führen doch hier
       nicht nur Dienste und Behörden ein politisch unkontrolliertes Eigenleben,
       sondern die gewählten demokratischen Institutionen selbst schirmen dieses
       Eigenleben vor der Öffentlichkeit ab.
       
       Es war der nationalsozialistische Staatstheoretiker Carl Schmitt, der
       feststellte: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Der
       NSU-Skandal, dieser noch nicht deutlich genug als Ausnahmezustand erkannte
       Fall von bewusstem und gewolltem Staatsversagen, beweist, dass Teile der
       Institutionen aktiv daran beteiligt sind, an die Stelle des demokratischen
       Souveräns die Souveränität vermeintlicher Staatsschützer zu setzen. Die
       DDR, die freilich nicht über die Camouflage einer liberalen Alltagskultur
       verfügte, folgte derselben Logik.
       
       25 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
 (DIR) Hajo Funke
       
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