# taz.de -- Entwicklungsökonom über Mikrokredite: „Lebensgefährlich und zynisch“
       
       > Kleinstdarlehen bedeuten oft die Privatisierung öffentlicher Güter, sagt
       > Ökonom Philip Mader. Er hält einen Großteil des Mikrofinanzsektors für
       > eine Fehlentwicklung.
       
 (IMG) Bild: Diese Näherin im indischen Kapalpattu hat sich ihre Nähmaschine mit einem Mikrokredit finanziert.
       
       taz: Herr Mader, Deutschlands neuer Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU)
       setzt auf Mikrokredite. Erst kürzlich versprach er Indien und Marokko
       entsprechende Projekte. Aber auch für viele Experten gelten sie als eine
       Art Wundermittel der Entwicklungspolitik. Dagegen schreiben Sie in Ihrem
       neuen Buch, durch Mikrokredite sei „keine positive Wirkung nachzuweisen“. 
       
       Philip Mader: Es wundert mich immer wieder, dass auch in der Linken
       Mikrokredite nicht als das erkannt werden, was sie eigentlich sind: nämlich
       eine Form der Entwicklungsarbeit, welche die Armen selbst bezahlen sollen.
       Ob dabei Entwicklung tatsächlich entsteht, ist fraglich. Was wir eindeutig
       feststellen können, ist aber, dass das Geschäft gewachsen ist. Mittlerweile
       werden jährlich mehr als 100 Milliarden Dollar verliehen, woran die
       Mikrofinanzinstitute 2012 über 21 Milliarden Dollar verdient haben. Jeden
       Cent davon mussten die Armen bezahlen. Die „Rechten“ reizt die Idee der
       marktbasierten Lösung, die „Linken“ reizen wohl Eigeninitiative und das
       Prinzip „small is beautiful“.
       
       Sie meinen, das kapitalistische System wird einfach in Richtung Armut
       erweitert, oder? 
       
       Genau – beispielsweise wie ich in Indien erforscht habe. Mikrokredite
       drängen dort in den Wasser- und Sanitärbereich ein. Der Staat wurde in den
       90er Jahren geschwächt, Privatisierungen durch die Weltbank scheiterten
       aber an Protesten. Viele Slums stehen immer noch ohne Wasser und
       Sanitärversorgung da. Als Lösung werden nun Mikrokredite gepriesen. Arme
       Menschen sollen private Schulden für öffentliche Güter aufnehmen. Was ihnen
       von der Mehrheitsgesellschaft vorenthalten wird, sollen die Armen nun auf
       Pump selbst kaufen: Privatisierung durch die Hintertür. An diesem Beispiel
       kann man sehr gut den neoliberalen Grundgedanken sehen, wie ihn auch der
       „Erfinder“ der Mikrofinanz, Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus,
       predigt. Sein Credo: Der Staat solle sich aus allem zurückziehen, außer aus
       Polizei und Militär, und alles andere dem privaten Sektor überlassen.
       
       Sie lehnen Mikrokredite grundsätzlich ab? 
       
       Die Frage ist, unter welchen Bedingungen Kredite eine positive Rolle
       spielen könnten. Bestimmt nicht, wenn sie wie heute die Entwicklungshilfe
       dominieren und andere, geeignetere Möglichkeiten der Hilfe verdrängen.
       Mikrofinanzen können vielleicht für einige wenige Menschen, die besonders
       unternehmerisch sind oder eine grandiose Geschäftsidee haben, etwas
       bewirken. Dann muss man aber in größeren Dimensionen denken als 100 Dollar.
       Damit kann man einen kleinen Bananenverkaufsstand aufbauen, aber nicht
       beispielsweise eine Milchkooperative, die Milch pasteurisiert und in die
       nächste Stadt bringt. Es ist notwendig, solche neuen Wirtschaftskreisläufe
       zu entwickeln. Und das ist bislang überall eine Aufgabe von Staat und
       Politik gewesen, nicht die von Geldverleihern. Die vielen Beiträge in
       unserem Buch stellen deshalb klar: Ein sehr großer Teil des
       Mikrofinanzsektors ist eine Fehlentwicklung.
       
       Minister Müller sollte also in Marokko oder Indien besser auf Mikrofinanz
       verzichten? 
       
       Gerade dort! In Indien war ich selbst Zeitzeuge der bislang tiefsten
       Mikrofinanzkrise. Ein Großteil der Bevölkerung des Bundesstaates Andhra
       Pradesh war in eine hoffnungslose Schuldenfalle getrieben worden. 2010
       brachten sich dann innerhalb eines Monats an die 80 Menschen um, teils, als
       sie von ihren Kundenbetreuern und den Mitgliedern ihrer Haftungsgruppen zum
       Suizid gedrängt wurden. Die riesige Mikrofinanzblase platzte. In Marokko
       schwelt seit 2008 eine Krise. Im Arabischen Frühling gründete sich dann
       eine Bewegung von Frauen, „Opfer des Mikrokredits“, die gegen hohe Zinsen
       und drastische Eintreibemaßnahmen protestierte. Deren zwei Anführerinnen
       wurden vor kurzem zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Dass also gerade in
       diesen beiden Ländern Mikrokredite als Teil der Lösung gepriesen werden,
       finde ich ausgesprochen zynisch.
       
       3 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hermannus Pfeiffer
       
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