# taz.de -- Neue Pop-Alben aus Kanada: Wahnsinn und Gesellschaft
       
       > Kanada, Land der unbegrenzten Möglichkeiten: neue Pop-Alben von Owen
       > Pallett (Montréal), Kevin Drew und Fucked Up (beide aus Toronto).
       
 (IMG) Bild: Hat mit allen namhaften kanadischen Bands gespielt: Owen Pallett.
       
       Owen wer? So dürfte die allgemeine Popöffentlichkeit reagieren, wenn von
       Owen Pallett die Rede ist. Dabei haben viele schon mal Musik von ihm
       gehört. Womöglich jüngst in dem Spike-Jonze-Film „Her“, für den Pallett
       gemeinsam mit der Band Arcade Fire den Soundtrack einspielte. Überhaupt,
       Arcade Fire: Bei denen spielt Pallett im Live-Ensemble. Auch mit R.E.M. und
       den Pet Shop Boys hat der 34-jährige Kanadier schon kollaboriert.
       Eigentlich hat er es gar nicht mehr nötig, dass all diese Referenzen
       angeführt werden – nur ist Pallett als Solokünstler noch immer nahezu
       unbekannt.
       
       Obwohl der schmale, jungenhafte Künstler bereits vier Soloalben
       veröffentlicht hat, zunächst als Final Fantasy, dann unter eigenem Namen.
       Das aktuelle Werk des inzwischen in Montréal ansässigen Künstlers heißt „In
       Conflict“ und vereint seine Stärken: Owen Pallett schafft orchestrale Musik
       zwischen Pathospop und Klassik – auf der Grundlage von Geigen-Loops,
       Klavier und Gesang. Pallett und sein streunendes Wesen – er begleitet
       Hardcore-Bands genauso wie Orchester – sind ein perfektes Beispiel für die
       musikalische Bandbreite, die die kanadische Popszene derzeit hat.
       
       Sicher, Montréal und Toronto sind keine Geheimtipps mehr als Brutstätten
       von fortschrittlichem Pop. Die Art und Weise aber, in der die Künstler dort
       netzwerken, wie sie Genregrenzen negieren und gleichzeitig Stile mit
       eigenwilligen Mitteln weiterentwickeln, macht Kanada so spannend.
       Insbesondere, wenn man sich nicht mit der Einschätzung abfinden will,
       amtliche Popmusik drehe sich ohnehin nur im Kreis. Mit Arts & Crafts
       (Toronto) und Constellation (Montréal) operieren zudem umtriebige
       Indielabels mit internationaler Anbindung.
       
       Nun kommt noch weiterer frischer Stoff aus dem zweitgrößten Staat der Erde:
       Kevin Drew, Mastermind des Bandkollektivs Broken Social Scene,
       veröffentlichte „Darlings“, und die Post-Hardcore-Band Fucked Up – auch für
       Letztere arbeitete Pallett bereits – legt dieser Tage ihr neues Album
       „Glass Boys“ vor. Gemein ist ihnen allen, dass sie im weitesten Sinne
       Themenalben – um das Wort Konzept zu vermeiden – sind. Wie Owen Pallett
       beim Interview im Zimmer einer Berliner Agentur auf einer großen braunen
       Couch liegt, wirkt es, als sei Promotion für ihn Therapie.
       
       Nach dem Bogen befragt, den „In Conflict“ spannt, antwortet der
       straßenköterblonde Pallett: „Es geht um Schwellenzustände, von denen man
       manche als Wahnsinn bezeichnen könnte, aber zum Teil umschreibe ich die
       auch ironisch.“ Pallett spricht, während er gen Decke schaut. Ihm ginge es
       um das Nebeneinanderstellen verschiedener Gemüts- oder Geisteszustände,
       etwa Depression, Sucht, Gender-Trouble oder Zustände des Dissoziativen.
       
       ## Kanadas liberale Politik
       
       Wenn Palletts Texte immer auch Interpretationsspielraum haben, so
       beschäftigen sie sich oft mit Gefühlen der Entfremdung: „You stand in the
       city that you don’t know anymore / Spending every year / Bent over from the
       weight of the year before.“ Oder auch mit Problemen der (sexuellen)
       Identität. Palletts Schwulsein spielt dabei nur am Rand eine Rolle –
       ausdrücklich lobt er Kanada für seine liberale Politik (es war das vierte
       Land der Welt, das die Homo-Ehe implementierte), ja, er sagt gar: „Niemand
       ist dort homophob.“ Das meint er zwar nur halb ernst – dass es sich als
       Homosexueller ungestört in Kanada lebt, bekräftigt er dennoch.
       
       Musikalisch geht Pallett, der seit elf Jahren unverheiratet mit einem Mann
       zusammenlebt, mit „In Conflict“ seinen Weg konsequent weiter: Im Zentrum
       seiner Songs steht das Loopen von Geige und Klavier. Nur wird es diesmal in
       einen Bandkontext überführt, während er am Anfang seiner Karriere noch
       allein mit Laptop tourte. Jetzt wirkten Matt Smith am Bass und Rob Gordon
       (Percussion) bei den Aufnahmen mit – beide kennt Pallett bereits, seit sie
       zusammen in der Band Les Mouches spielten.
       
       Auch ein Star tritt auf: Der Brite Brian Eno steuerte Synthesizer, Gitarren
       und Gesang bei. Alle Arrangements stammen von Pallett, der sich als
       Workaholic bezeichnet. „Es war eine bewusste Entscheidung, mit den
       Loop-Effekten weiterzuarbeiten“, erklärt er. „Ich will ’harder, faster,
       stronger‘ in dieser Disziplin werden.“ Sein Loop-Konzept in einen
       Albumkontext zu überführen, ist ihm mit „In Conflict“ gelungen – es ist
       sein bislang stärkstes Solowerk. Für die Zukunft würde man ihm noch mehr
       Mut zu ausufernden Passagen wünschen.
       
       Das Songwriting seines Kollegen Kevin Drew hingegen ist vergleichsweise
       konventionell: Auf „Darlings“ regiert der simple Popsong. Genau wie Pallett
       ist auch Drew eine zentrale Figur der kanadischen Popszene. Schon in den
       vergangenen Jahren hat er mit Broken Social Scene tolle Alben
       veröffentlicht, etwa „Forgiveness Rock Record“ (2010), bei dem die Hoffnung
       aufflammte, Indierock könne künstlerisch nochmals aufregend werden. Drew
       ist zudem Inhaber des Labels Arts & Crafts, auf dem Künstler wie Leslie
       Feist oder Chilly Gonzales veröffentlichen.
       
       ## "Good Sex"
       
       Sein aktuelles Album bezeichnet er als Geschichte über „The rise and fall
       of love and sex“. Der Auftaktsong handelt von Flüssigkeiten auf der Haut
       („Body Butter“), auch die „Mexican Aftershow Party“, von der Drew singt,
       hat alles, was eine durchgeknallte Nacht braucht, und, na ja, „Good Sex“,
       das hierzulande im Radio rauf und runter lief, spricht ohnehin für sich.
       „Darlings“ vermittelt unaufdringlich eine gewisse Leichtigkeit, verhandelt
       aber durchaus ernsthaft Themen wie Nähe, Liebe oder Freundschaft. Drew
       zeigt damit, dass er ein überdurchschnittlicher, aber kein herausragender
       Songwriter ist.
       
       Nach „Spirit if?“ (2007) ist „Darlings“ sein zweites Solowerk. Aufgenommen
       in blühenden kanadischen Landschaften – zwischen Bergen und Seen. Damit es
       ihm dort in der Hütte nicht zu einsam wurde, nahm er Charles Spearin and
       Ohad Benchetrit von Do Make Say Think sowie Dean Stone von Apostle of
       Hustle mit. Die Songs auf „Darlings“ klingen aber so, als hätten Coldplay
       die Kurve gekriegt, um endlich okaye Musik zu machen: Es gibt Balladen,
       Dancefloor-Nummern und klassische Folksongs, mit elektronischem Gebrumme
       unterlegt.
       
       Drews Gesang, seine betont weiche Stimme – die sich mehr nach Beck als nach
       Bruce anhört – nimmt dabei großen Raum ein. Er selbst sprach mal von einer
       „8.000-bands-a-minute world“, in der er nicht genau wisse, wo er hingehöre.
       „Darlings“ ist leider nicht der große Wurf, der Kevin Drew aus dieser
       Mischpoke herausheben würde, aber man hat bei ihm trotzdem das Gefühl, dass
       irgendwann noch mal ein reifes Werk gelingen könnte.
       
       ## Weiterentwickelter Punk
       
       Ein Alterswerk der Hardcore-Erneuerer von Fucked Up kann man sich dagegen
       nicht vorstellen – höchstens in Form von akustischem Grindcore. Man sollte
       die Band um den Sänger Damien Abraham und den Gitarristen Mike Haliechuk
       deshalb Hardcore-Erneuerer nennen, weil sie an den Grundkonstanten von Punk
       festhält, ihn aber stetig weiterentwickelt. Damien Abraham, der bei
       Liveauftritten wütet, wankt und sich durch die Menge wühlt, singt kehlig,
       grölend und röchelnd, während sich ein weicher Teppich darunterlegt.
       
       Dafür sorgen Synthesizer, Streicher, Progrock-Gitarren und etliche
       Gastsänger, die sich mit ihren Chören wie Seidenschals um das wütende
       Gezeter schmiegen. Das Fucked-Up-Album „David Comes to Life“ war für das
       Musikmagazin Spin 2011 immerhin Album des Jahres, mit dem Nachfolger „The
       chemistry of common life“ gewannen Fucked Up gar den „Polaris Music Prize“,
       die wichtigste kanadische Auszeichnung.
       
       Mit „Glass Boys“ bestätigt die Band aus Toronto ihre Qualität: Diese
       Detailverliebtheit im Zusammenhang mit einer sorgfältigen Produktion weiß
       man beim erneuten Hören zu schätzen. Die unterschiedlichen Strömungen, die
       Fucked Up in ihrem Sound vereinen, verdanken sich übrigens einem
       Richtungsstreit zwischen Abraham und Haliechuk. Während Ersterer
       No-Nonsens-Hardcore bevorzugt, steht Letzterer für Brüche und stilfremde
       Elemente. Auch das ein gutes Beispiel dafür, wie man in Kanada
       zusammenbringt, was schwer zusammenzubringen scheint.
       
       18 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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