# taz.de -- Debatte Entführungen in Palästina: Hilflos im Westjordanland
       
       > Mit ihrem Militäreinsatz in der Westbank will die israelische Regierung
       > die Einigung der Palästinenser torpedieren. Sie provoziert einen
       > Flächenbrand.
       
 (IMG) Bild: Hebron am Mittwoch: Israelische Soldaten suchen die verschwundenen Jugendlichen.
       
       Vor rund einer Woche wurden in der Nähe der Siedlung Kfar Etzion drei
       israelische Jugendliche mutmaßlich entführt. Bisher gibt es weder ein
       Bekennerschreiben noch Informationen über ihren Verbleib.
       
       Der israelische Ministerpräsident macht die Hamas verantwortlich. Seit dem
       Verschwinden der Jugendlichen hat die israelische Armee eine groß angelegte
       Armeekampagne im Westjordanland begonnen, die beinahe an die Tage der
       zweiten Intifada erinnert. Erklärtes Ziel des Verteidigungsministeriums ist
       es, die Jugendlichen zu finden und die Sicherheit der „Einwohner von Judäa
       und Samaria“ zu gewährleisten – gemeint sind die israelischen Siedler im
       Westjordanland.
       
       Die Auswirkungen der Militäreinsätze auf die palästinensische
       Zivilbevölkerung sind massiv: Über 300 Menschen wurden bereits
       festgenommen, darunter viele Hamasmitglieder und über 50 ehemalige
       Gefangene, die 2011 im Rahmen des Gefangenenaustausches mit dem
       israelischen Soldaten Gilad Shalit freigelassen wurden.
       
       Haftbedingungen für Hamasangehörige in israelischen Gefängnissen wurden vom
       israelischen Kabinett verschärft. Über 750 Privathäuser wurden durchsucht
       und teils verwüstet, in viele Haushalte drang die israelische Armee in den
       Nachtstunden ein. Selbst in Gebiete, die seit den Oslo-Vereinbarungen unter
       Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde stehen, rückte die Armee
       vor. Auch in Ramallah, dem Sitz der Autonomiebehörde, und in Birzeit, der
       größten palästinensischen Universität gab es Vorstöße und Verhaftungen.
       Große Städte wie Hebron und Nablus sind abgeriegelt. Ein 20-jähriger
       Palästinenser wurde im Flüchtlingslager Jalazun von der israelischen Armee
       erschossen.
       
       Die israelische Regierung macht Stimmung gegen „Terroristen“, mit der sie
       nicht nur bewaffnete Kämpfer, sondern die gesamte Hamaspartei und ihre
       politischen Vertreter und Sympathisanten meint. Das öffnet die Tür für
       willkürliche Verhaftungen. Unter anderem wurden auch der
       Parlamentspräsident Aziz Dweik und weitere Parlamentarier wieder in Haft
       genommen.
       
       Menschenrechte und Unschuldsvermutung müssen auch für Mitglieder der Hamas
       gelten, selbst wenn diese in der Vergangenheit für schwere
       Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren. Stattdessen rechtfertigt
       sich die israelische Regierung mit dem Slogan der Terrorismusbekämpfung.
       Dass dies in Teilen der Bevölkerung auf Verständnis stößt, zeigt eine
       Facebookseite auf Hebräisch mit dem zynischen Titel „Bis die Jugendlichen
       zurückkommen, erschießen wir jede Stunde einen Terroristen“, die bereits
       über 20.000 Likes sammeln konnte.
       
       ## Entführung nicht im Interesse der Hamas
       
       Die politische Führung der Hamas weist die Verantwortung für die Entführung
       von sich. Gerade hatte man sich mit der Fatah auf eine Einheitsregierung
       geeinigt, um aus der seit 2007 bestehenden Isolation im Gazastreifen
       auszubrechen. Die neue Regierung hat auch die Bedingungen des
       Nahostquartetts akzeptiert, die unter anderem einen Gewaltverzicht
       verlangen.
       
       Eine geplante Entführung wäre ein kalkuliertes Ende der Einheitsregierung,
       das derzeit kaum im Interesse der Hamasführung liegen dürfte. Nicht
       auszuschließen ist eine Entführung durch Einzeltäter, ob der Hamas
       zugehörig oder nicht, möglicherweise mit dem Ziel, Gefangene aus
       israelischen Gefängnissen freizupressen.
       
       Derzeit befinden sich rund 5.000 palästinensische Häftlinge in israelischen
       Gefängnissen, über 120 demonstrieren seit Wochen mit einem Hungerstreik
       gegen die Praxis der „Administrativhaft“, mit der Israel politische
       Gefangene ohne Anklage und Verfahren mitunter jahrelang festhält.
       
       Die israelischen Militäraktionen sollen nun die palästinensische
       Einheitsregierung torpedieren. Netanyahu fordert seit Wochen vom
       palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, den Versöhnungsprozess mit der
       Hamas aufzukündigen. Eine starke und geeinte palästinensische Führung, die
       nach dem Scheitern der jüngsten Verhandlungen eine neue politische
       Strategie entwickeln und dafür sogar noch internationale Unterstützung
       bekommen würde, wäre Netanyahus Albtraum.
       
       Abbas wirkt derweil hilfloser denn je. Während er Netanyahu zusicherte,
       alles zu tun, um die Entführten zu finden und die Täter zur Rechenschaft zu
       ziehen, kann er den Schutz der eigenen Bevölkerung nicht gewährleisten. 80
       Prozent des Westjordanlandes sind für seine Sicherheitskräfte nicht
       zugänglich, in die wenigen quasi-autonomen Gebiete stößt jetzt ebenfalls
       die israelische Armee vor.
       
       ## Siedlungsbau gefährdet Israelis
       
       Das Vorgehen der israelischen Armee gegen Zivilisten hat die Qualität von
       Kollektivstrafen, die nicht mit der Suche nach den Entführten
       gerechtfertigt werden können. Sie sind ein schwerer völkerrechtlicher
       Verstoß gegen die Genfer Konventionen und drohen, einen neuen Flächenbrand
       zu provozieren.
       
       Schon seit Monaten beschleunigt Israel den Ausbau von Siedlungen im
       Westjordanland; Zerstörungen von palästinensischen Häusern haben ebenso
       zugenommen wie gewaltsame Attacken seitens der Siedler. Zwölf
       palästinensische Zivilisten sind nach UN-Angaben im Verlauf dieses Jahres
       durch die israelische Armee getötet worden, über 1.000 wurden verletzt.
       Zuletzt wurden im Mai 2014 zwei unbewaffnete palästinensische Teenager
       erschossen. Die brutalen Bilder wurden von einer Sicherheitskamera
       aufgezeichnet.
       
       Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnete den Vorfall
       als Kriegsverbrechen. Ein internationaler Aufschrei blieb jedoch aus. Den
       drei entführten Jugendlichen ist zuallererst zu wünschen, dass sie rasch
       und unversehrt in Freiheit gelangen. Die Art und Weise, wie ihr Schicksal
       für politische Ziele missbraucht wird, ist zynisch.
       
       Dass der massive Ausbau von völkerrechtswidrigen Siedlungen in der Westbank
       und Ostjerusalem nicht nur die Sicherheit der palästinensischen
       Bevölkerung, sondern letztlich auch der dort lebenden israelischen
       Staatsbürger gefährdet, fehlt in der Diskussion. Keine noch so drastischen
       militärischen Maßnahmen werden die Sicherheit von Hunderttausenden Siedlern
       im Westjordanland gewährleisten können, solange keine politische Lösung zur
       Beendigung der Besatzung gefunden wird.
       
       20 Jun 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) René Wildnagel
       
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