# taz.de -- Vom Problemfall zur Vorzeigeschule: Der Rütli-Effekt
       
       > 2006 stand die Rütlischule für gescheiterte Integration. Nun entlässt sie
       > ihre ersten Abiturienten. Die meisten haben einen Migrationshintergrund.
       
 (IMG) Bild: Hier wird etwas aufgebaut: Schirmherrin Christina Rau mit zwei Kindern aus der Kita Villa Kunterbunt auf dem Campus Rütli.
       
       BERLIN taz | Der 19-jährige Schirin wurde im Irak geboren und kam während
       des Golfkriegs mit seinen Eltern nach Deutschland. Er hat fünf Geschwister
       und ist der Erste, der in seiner Familie das Abitur gemacht hat.
       Maschinenbau will er studieren. Sein Vater, ein Kraftfahrer, ist mächtig
       stolz auf ihn.
       
       Rozan, 20, deren Eltern aus dem Libanon stammen, ist in der Oberstufe an
       diese Schule zurückgewechselt, weil sie hier mehr Unterstützung von Lehrern
       bekam. Nun will sie selbst Lehrerin für Deutsch und Biologie werden – ihre
       Lieblingsfächer.
       
       Rozans Freundin Hanadi, Tochter palästinensischer Flüchtlinge, möchte nach
       dem Abitur Sozialpädagogik studieren.Die drei zählen zu den
       Bildungsaufsteigern in Berlin-Neukölln. Und: Sie gehören zu den ersten 18
       Abiturienten, die an ihrer Schule, dem [1][Campus Rütli], in diesem Jahr
       ihren Abschluss gemacht haben.
       
       Rütli? War da nicht mal was? Acht Jahre ist es her, dass die Schule im
       Berliner Bezirk Neukölln, damals noch eine Hauptschule, über Nacht zum
       Sinnbild für die deutsche Bildungsmisere wurde. In ihrer Not hatte sich die
       Lehrerschaft, seit Monaten ohne Schulleitung, im Februar 2006 an die
       Schulverwaltung gewandt und über unhaltbare Zustände geklagt: „In vielen
       Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des
       Unterrichtsstoffes“, schrieben sie. „Gegenstände fliegen zielgerichtet
       gegen Lehrkräfte durch die Klassen“, und: „Einige Kollegen/innen gehen nur
       noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen
       können.“
       
       ## Die Rede war von „Parallelgesellschaften“
       
       Drastische Worte, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Wenn auch mit
       Verzögerung. Von der Verwaltung kam zunächst keine Antwort. Erst als der
       Brandbrief nach Wochen an die Öffentlichkeit kam, brach bundesweit eine
       erregte Debatte über Gewalt an Schulen und eine angeblich gescheiterte
       Integration los.
       
       Die einen warnten vor „Parallelgesellschaften“ und „Gettobildung“ und
       machten die oft muslimischen Eltern für das Scheitern ihrer Kinder
       verantwortlich, andere stellten dagegen den Sinn des dreigliedrigen
       Schulsystems in Frage. Sogar der Bundestag debattierte über diese Fragen,
       und Angela Merkel berief kurz darauf ihren ersten „Integrationsgipfel“ ein.
       Kamerateams belagerten die Schule, die für eine Weile unter Polizeischutz
       gestellt werden musste.
       
       Der Brandbrief war eine Zäsur. Im Jahr 2009 wurde die Rütli-Schule mit
       einer benachbarten Realschule und einer Grundschule zu einer
       Gemeinschaftsschule fusioniert, zum „Campus Rütli“, und damit als
       Hauptschule aufgelöst. Die Schüler können heute im besten Fall 13 Jahre
       lang zusammen lernen. Ein Jahr später, 2010, wurde die Hauptschule als
       Schulform in ganz Berlin abgeschafft, seitdem gibt es in der Hauptstadt nur
       noch zwei Oberschultypen – Integrierte Sekundarschulen und Gymnasien.
       
       Seit der Fusion leitet Cordula Heckmann den „Campus Rütli“, zu dem noch
       zwei Kitas, ein Jugendclub und eine neue Sporthalle gehören. Zur Feier des
       ersten Abiturjahrgangs, der ihre Schule verlässt, zog sie Bilanz: Das
       Kollegium habe sich deutlich verjüngt und es gebe jetzt mehr Lehrer und
       Sozialarbeiter mit Migrationshintergrund als früher. Es gibt freiwillige
       Kurse in Türkisch und Arabisch, die geprüft als zweite Fremdsprache
       anerkannt werden können. „Dafür haben wir lange gekämpft“, sagt
       Schulleiterin Heckmann. Und in der gymnasialen Oberstufe, die seit 2011
       existiert, werde viel Wert auf die individuelle Betreuung der Schüler
       gelegt.
       
       ## 2 Gymnasialempfehlungen, 18 Abiturienten
       
       Nur eines hat sich kaum geändert: die Zusammensetzung der Schülerschaft. 86
       Prozent der etwa 850 Jugendlichen an ihrer Schule besitzen einen
       Migrationshintergrund, ihre Eltern sind oft türkischer oder arabischer
       Herkunft. 78 Prozent sind zudem lernmittelbefreit, weil ihre Familien von
       staatlichen Transferleistungen leben.
       
       Trotzdem haben von den 23 Schülern des ersten Abiturjahrgangs, die aus
       genau solchen Familien stammen, jetzt 18 die Prüfung bestanden, die anderen
       fünf verlassen die Schule mit einer Fachhochschulreife. Mit einem
       Durchschnitt von 2,8, lagen die Rütli-Abiturienten knapp unter dem
       diesjährigen Neuköllner Mittelwert von 2,6. „Ich finde, wir waren gut“,
       resümiert Heckmann. Nur zwei Schüler der Abiklasse hatten ursprünglich eine
       Gymnasialempfehlung.
       
       Doch der Erfolg zeige sich nicht nur an der Spitze, sagt Heckmann: Auch der
       Anteil der Schüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen, sei stark
       gesunken, von 20 auf 5 Prozent.
       
       ## Neue Räume und viel Hilfe von außen
       
       Dieser Erfolg verdankt die Schule auch der massiven Unterstützung. Der
       Berliner Senat, der Bezirk und ein Bündnis von Stiftungen haben mit
       geholfen, die Schule zu einem Modellprojekt umzukrempeln. Als Schirmherrin
       wacht Christina Rau, die Frau des verstorbenen Exbundespräsidenten, über
       die Entwicklung.
       
       Für den Ganztagsbetrieb wurde eine Mensa eingerichtet, es gibt nun Räume
       für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Trotzdem sei ihre Schule „kein
       Ausstattungsparadies“, betont Rektorin Heckmann. Tatsächlich können viele
       Wände mal wieder einen neuen Anstrich gebrauchen.
       
       Aber Heckmann weiß, dass manche KollegInnen sie um die Unterstützung von
       außen beneiden. „Dass wir eine Schirmherrin haben, öffnet uns Türen“, gibt
       sie zu. Privilegiert sei man aber trotzdem nicht. Und vieles – etwa die
       Sport- und Musik-AGs – sei nur dem Engagement der Eltern und Pädagogen zu
       verdanken.
       
       Der „Campus Rütli“ wird in den nächsten Jahren wachsen. Bereits heute
       gehören zwei Kitas, ein Jugendclub und eine Sporthalle dazu. Heckmann
       trifft sich regelmäßig mit den LeiterInnen. Außerdem arbeitet man mit der
       Volkshochschule, einer Musikschule, dem Gesundheitsdienst und dem
       Sozialpädagogischen Dienst zusammen. Seit 2007 existiert eine Pädagogische
       Werkstatt, die Eltern, Erzieher und Lehrer unterstützt. Und für besonders
       gute Schüler, die es sich sonst nicht leisten könnten, gibt es Stipendien,
       damit sie Geige lernen oder einen Fotokurs machen könnten.
       
       ## Es geht gerade erst los
       
       Aber der Umbau zum „Bildungscampus“ steht noch ganz am Anfang. Von den rund
       32 Millionen, die der Berliner Senat dafür zugesagt hat, ist darum erst ein
       kleiner Teil geflossen. Auf dem Areal ist ein Neubau geplant, in den die
       Grundschule einziehen soll. 2017 soll das sein, im nächsten Jahr beginnen
       die Bauarbeiten. Auch Werkstätten zur Berufsorientierung sowie ein
       Elternzentrum sollen dazukommen; im Moment treffen sich die
       Elterninitiativen noch in der Stadtbibliothek.
       
       Das Umfeld der Schule hat sich aber jetzt schon gewandelt. Der einst
       berüchtigte Problembezirk Nord-Neukölln ist in den letzten Jahren hip
       geworden. An jeder Ecke finden sich angesagte Bars und Cafés, Bioläden und
       Kunstgalerien machen neu auf, die Mieten steigen und eine andere Klientel
       zieht ein.
       
       Mit leichter Verzögerung spiegelt sich dieser Trend auch an der Schule. In
       den ersten Klassen haben 40 Prozent der Schüler keinen
       Migrationshintergrund mehr, die Eltern sind oft Studenten oder Akademiker.
       Inzwischen gibt es mehr Anmeldungen als freie Plätze.
       
       9 Jul 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.xn--campusrtli-geb.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
       ## TAGS
       
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