# taz.de -- Vom Stasiaufklärer zum Feldforscher: Der sächsische Antidarwinist
       
       > Schon in der DDR war Michael Beleites Umweltschützer. In seinem neuen
       > Buch finden sich provokante Thesen. Ein Besuch.
       
 (IMG) Bild: 30 Jahre und mehr hat Michael Beleites seine „naturwissenschaftliche Nebentätigkeit“ betrieben (Archivbild 2010).
       
       BLANKENSTEIN taz | „Aus nächster Nähe habe ich gesehen, wie sich
       Gartenrotschwänze mit Staren gestritten haben“, erinnert sich Michael
       Beleites. Er schwärmt von diesen filigranen Wesen, von ihrer tiefschwarzen
       Kehle, der rostroten Brust, dem orangefarbenen Bauch und bekennt: „Da hab
       ich gemerkt, wie schön die Vögel aussehen.“ Es klingt immer noch wie eine
       Offenbarung, auch wenn das Jahrzehnte her ist. Michael Beleites wird in
       diesem Jahr fünfzig Jahre alt, die Kindheit liegt ein halbes Leben zurück,
       und doch – dieser Mann hat das Staunen nicht verlernt.
       
       Warum interessiert sich ein Halbwüchsiger für Rotkehlchen, Kleiber und
       Gartenrotschwanz? Michael Beleites lächelt still in sich hinein. Beleites
       war in der DDR Oppositioneller, Umweltschützer, Staatsfeind. Nach der Wende
       bildete er sich zum Landwirt aus, später war er Landesbeauftragter für die
       Stasi-Unterlagen.
       
       Eigentlich müsste jetzt ein Buch über die DDR kommen. Doch jetzt sind es
       die Vögel der Kindheit, die ihn zu seinem Lebenswerk inspiriert haben. Und
       ein fast 700 Seiten starkes Buch, mit dem Beleites keinen Geringeren als
       Charles Darwin angreift, ist sicher ein Lebenswerk.
       
       Das Buch auf dem Tisch, schwer wie ein Ziegelstein. Zwanzig Jahre
       „naturkundliche Nebentätigkeit“ liegen darin gebündelt, sagt Beleites.
       Sakko, Pullover, Stoppelhaare, Dreitagebart, eine Tasse Kräutertee vor sich
       – er wirkt wie ein Landpfarrer, der sich in Gedanken an die Schöpfung
       vertieft hat. Beleites bewohnt mit seiner Familie das frühere Pfarrhaus von
       Blankenstein bei Dresden. Hier hat er die Ergebnisse seiner Feldstudien
       gesammelt, systematisiert, verglichen und endlich veröffentlicht. Das
       Ergebnis: Beleites’ Beobachtungen stützen Darwins Theorie von der
       natürlichen Zuchtwahl nicht. Es muss in der freien Natur etwas anderes
       geben, was die Arten formt und zusammenhält.
       
       ## Stets mit Kamera
       
       Beleites hat zwei Berufe, ist mehreren Beschäftigungen nachgegangen,
       Biologe ist er allerdings nicht, jedenfalls keiner mit
       Universitätsabschluss. Er bewirtschaftet mit seiner Frau einen Gärtnerhof,
       ein Hektar für Blumen und Kräuter, draußen hinterm Haus. Seine Domäne sind
       Zitronenmelisse, Brennnesseln, Huflattich, Lindenblüten, seine Frau kümmert
       sich um die Blumenbeete.
       
       Zuvor war er von 2000 bis 2010 Sächsischer Landesbeauftragter für die
       Stasi-Unterlagen. Doch nach Dienstschluss verwandelte sich der
       Stasi-Aufklärer regelmäßig in einen Naturforscher. „Ich hatte als
       Landesbeauftragter meist einmal die Woche in Leipzig zu tun“, erzählt
       Beleites. Die Termine waren am Nachmittag erledigt. Danach verabschiedete
       er sich und fuhr in die Deutsche Bücherei, eine wahre Schatzkammer.
       Beleites lässt sich Dissertationen, Zeitschriften und Aufsätze geben.
       
       Sein Wissenshunger ist enorm. Überhaupt nutzt er jeden freien Augenblick.
       Bei Dienstfahrten ist stets die Kamera dabei. Er fotografiert Ratten,
       Krähen, Spatzen, Höckerschwäne, Stieglitze, Katzen, natürlich auch
       Pflanzen. Oft auch Tauben irgendwo unter Bahnhofsdächern. Seine
       Forschungsreisen führen nicht um die Welt, sondern nach Erfurt, Berlin und
       Magdeburg. Beleites arbeitet seinen Katalog ab: Welche Färbung hat das
       Federkleid der Tauben? Ist es eher wildfarben, schon schwärzlich oder
       rötlich? Fehlt es den Federn an Pigmenten?
       
       Er sammelt Krähenfedern und untersucht sie auf Pigmentstörungen und
       Festigkeit. Er findet in den Städten Krähen, die weiterziehen, und solche,
       die brüten. Die Stadtbrüter zeigen Pigmentstörungen, manche Federn sind
       weiß. Sein Schluss: Im urbanen Milieu degeneriert die Population.
       
       ## Die alten Koryphäen studiert
       
       Beleites geht mit den Augen eines Feldforschers durch die Stadt, sucht
       Dächer und Bäume nach Vögeln ab, fotografiert an Straßenrändern Wildkräuter
       – der Stasi-Unterlagen-Beauftragte in recht eigentümlicher Mission. Viele
       dieser Bilder finden sich in seinem Buch wieder.
       
       Und er liest die Schriften längst verstorbener Koryphäen der
       Evolutionslehre. Er studiert Johann Jakob von Uexküll, der den Begriff der
       Umwelt in der Biologie etablierte, und Ernst Mayr, den späteren
       Harvardprofessor, der als Junge in Sachsen Vögel beobachtete und die
       Population als biologisches System erkannte. Vögel sind auch die Favoriten
       von Otto Kleinschmidt. Der Theologe und Ornithologe inspiriert Beleites wie
       kein Zweiter.
       
       Kleinschmidt, ein Wanderer zwischen Naturwissenschaften und Theologie,
       hatte 1927 in Wittenberg das „Forschungsheim für Weltanschauungskunde“
       gegründet. Später in Kirchliches Forschungsheim umbenannt, wurde der Ort in
       den achtziger Jahren ein Zentrum der Umweltbewegung. Von hier aus beginnt
       Beleites, sich mit dem Uranbergbau zu beschäftigen. Das Resultat seiner
       verdeckten Recherche: Die „Pechblende“, eine 77 Seiten starke
       Untergrundschrift, in der er die Folgen des Uranbergbaus beschreibt:
       Radonbelastung, Gewässerbelastung, Schwefelsäure, Baumsterben, Lungenkrebs,
       Silikose. „Das hat die Stasi in Hochform gebracht.“ Beleites lacht kurz
       auf. Er darf nicht studieren, nicht ins Ausland reisen, wird zur Kündigung
       am Naturkundemuseum Gera gedrängt. Der Operative Vorgang, den die Stasi zu
       Beleites anlegt, heißt „Entomologe“.
       
       ## Bienenfresser im Tagebau
       
       Doch ganz gleich ob Uran, Landwirtschaft oder Evolution – seinen Anfang
       nimmt alles mit den Rotschwänzen, Amseln und Tauben auf dem Pfarrhof von
       Trebnitz, einem Dorf südwestlich von Leipzig, wo Beleites aufwächst. Dort,
       in Sichtweite der Schlote von Leuna und Buna, im DDR-„Chemiedreieck“, zieht
       der Elfjährige mit einem Vogelberinger über die Felder. Sie beobachten den
       paradiesisch bunten Bienenfresser, der nun am Tagebau auftaucht, einen
       Brüter, der das Subtropische liebt und den der Klimawandel in die
       Mondlandschaften der Braunkohlegruben vorschickt. Eine Sensation.
       
       Schon als Schüler fängt Beleites an, Tauben zu züchten. Aus dem Fenster der
       Schule beobachtet er den Flug seines Schwarms. „Die Tauben bilden die
       Verbindung zu den Variationsstudien, die ich später gemacht habe“, wirft
       Beleites ein. „Auch wenn Darwin zu anderen Ergebnissen kam, waren übrigens
       auch die Tauben Hauptgegenstand seiner Forschungen.“
       
       Beleites hat gelegentlich beim Reden innegehalten, ist still geworden, als
       wollte er seine Fühler ausrichten. Draußen vor dem Fenster schaukelt ein
       Futterhäuschen. Immer wieder kommen Vögel geflogen. Auf einem Regal steht
       eine ausgestopfte Amsel unter Glas. Eine Arbeit von Beleites aus der Zeit,
       als er Tierpräparator war. Sein Biologiestudium, sagt Beleites. „Solide
       zoologische Vorlesungen“ hat er als junger Präparator am Naturkundemuseum
       Berlin gehört.
       
       ## Kritische „Bauernstimme“
       
       Dreißig und mehr Jahre hat er seine „naturwissenschaftliche Nebentätigkeit“
       betrieben. Doch was heißt „Nebentätigkeit“? Das, was Beleites preisgibt,
       klingt eher nach Passion. Es ist die Natur, die ihn von Kindheit an
       begeistert, die ihn zur „Pechblende“ recherchieren lässt, die ihn – auch so
       eine „Nebentätigkeit“ – zu einem Kritiker der Agrarindustrie werden lässt.
       Erst kürzlich hat er in der Bauernstimme, der Zeitung der
       Arbeitsgemeinschaft für bäuerliche Landwirtschaft, wieder für ein neues
       Leitbild plädiert. Das ewige „Wachsen oder Weichen“, das Bauern für ein
       Naturgesetz halten, habe ausgedient.
       
       „Wachsen oder Weichen“ – auch das klingt nach Darwin. Seine Theorie hat
       politische Folgen, ist sich Beleites sicher. Die verhängnisvollste: die auf
       die Wettbewerbslogik gegründete Wachstumsgesellschaft der westlichen Welt,
       die die Erde immer weiter ausplündert. Doch an den Grundsatz, dass der
       Stärkere gewinnt, dass der Kampf ums Dasein und die natürliche Selektion
       alles Lebendige geschaffen haben, glaubt er nicht mehr. Das sind nicht die
       Prinzipien, die Beleites bei all seinen Beobachtungen erkannt hat. Denn es
       ist die Umwelt, das gesamte ökologische Milieu, das viel stärker auf
       Zusammenhalt, die Kohäsion einer Population Einfluss nimmt als Darwins
       Naturauslese.
       
       Die Vielfalt einer Art, ihre genetische Variation, unterliegt anderen
       Regeln als einer ausdauernden Auslese der Geeignetsten. Was sie
       zusammenhält, ist der Zugang zu natürlichen Umweltinformationen. Das sind
       optische, akustische oder auch elektromagnetische Faktoren, wenn Zugvögel
       den Sternenhimmel sehen, ihre Artgenossen hören und das Magnetfeld der Erde
       ohne Einschränkungen spüren können. Werden diese natürlichen
       Umweltinformationen gestört, so ist auch die Umweltbeziehung gestört.
       Beleites nennt diese Wechselwirkung „Umweltresonanz“ – so ist der Titel des
       Buches; sein Untertitel: „Grundzüge einer organismischen Biologie“.
       „Organismisch“ soll heißen, dass er die Biologie, die „Lehre vom Leben“,
       nicht auf Moleküle und Zellen reduziert, sondern die Schwärme, Populationen
       und Ökosysteme als ganzheitliche Systeme sieht.
       
       ## Was sagen die Biologen?
       
       Beleites nimmt einen Schluck Tee. Er wirkt friedlich, fast weich, auf den
       ersten Blick kein Kämpfertyp – und will doch Darwin vom Sockel stoßen. Was
       sagen denn die Biologen dazu? Die meisten etablierten Biologen ziehen
       Darwin nicht mehr in Zweifel, haben sich aber der Molekular- und
       Zellbiologie zugewandt. Der Darwinismus sei für viele der heutigen Biologen
       „mehr Bekenntnis als Erkenntnis“. Beleites winkt ab. „Ist eine Lehre erst
       einmal zum Dogma geworden, lässt sich mit Fakten und Argumenten nicht mehr
       viel ausrichten.“ Es wirkt nicht so, als glaube er an eine große
       wissenschaftliche Debatte. Eher hat da jemand sein Herz freigeschrieben.
       
       Immerhin, einer hat sich zu Wort gemeldet. Der Biologe und Ökologe Michael
       Succow geriet nach der Lektüre ins Schwärmen. Beleites habe erkannt, dass
       man sich von der „zerstörerischen, alles rechtfertigenden Wettbewerbslogik“
       lösen müsse, schreibt er. Sein Buch „gibt dem immer größeren Kreis von
       Zweiflern, von nach Zukunftsfähigkeit Suchenden endlich wirkliche
       Argumente.“ Man kann Succow, den Träger des Alternativen Nobelpreises von
       1997, als einen Verbündeten bezeichnen. Die hat Beleites auch nötig.
       
       Ein Grashalm ziert den Buchtitel, ein Tautropfen, den die Sonne funkeln
       lässt, ein Beleites-Foto – und irgendwie ein Hoffnungsschimmer.
       
       19 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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