# taz.de -- Henker als Insel-Bürgermeister: Ein kollektives Trauma
       
       > In Polen heißt Heinz Reinefarth, bis 1963 Bürgermeister auf Sylt, „Henker
       > von Warschau“. Deshalb wird sich die Gemeinde Westerland eine Mahntafel
       > für die Massaker beim Aufstand 1944 entschuldigen.
       
 (IMG) Bild: Emotional besetzt: das 1989 enthüllte Mahnmal für den Warschauer Aufstand vor dem Obersten Gerichtshof in Warschau.
       
       Der Warschauer Aufstand von 1944 ist ein kollektives Trauma für die Polen:
       Da bildeten Menschen mitten im Zweiten Weltkrieg eine Untergrund-Armee und
       traten gegen die deutschen Besatzer an, um Warschau zu befreien, bevor es
       die gefürchteten Sowjets taten. Ziel war es, eine eigene, von den Londoner
       Exilpolitikern unterstützte polnische Regierung zu bilden.
       
       Diese Facette empfinden viele Polen auch zum 70. Jahrestag am 1. August
       noch als Heldentat. Umstritten sei aber, sagt der Hamburger
       Osteuropa-Historiker Frank Golczewski, die historische Deutung. Denn mäßig
       bewaffnete, teils sehr junge Leute gegen die militärisch überlegenen
       Deutschen zu schicken – das ist diskussionswürdig, allem Freiheitspathos
       zum Trotz.
       
       Diese Ambivalenz ändert aber nichts daran, dass die Niederschlagung des
       Aufstands durch Nazi-Deutschland das größte Einzelkriegsverbrechen des
       Zweiten Weltkriegs war: Bis zu 200.000 Menschen kamen während des
       63-tägigen Aufstands um. Die meisten waren unbewaffnete Zivilisten, von
       denen die Deutschen allein in den ersten Tagen 60.000 erschossen.
       
       Verantwortlich für die Massaker dieser ersten Aufstandswoche war der
       SS-General Heinz Reinefarth, der später Bürgermeister auf Sylt und
       schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter wurde. Reinefarth wollte im
       NS-Regime Karriere machen und setzte den „Vernichtungsbefehl“ Hitlers
       akribisch um, sodass er in Polen noch heute „Henker von Warschau“ heißt.
       Nach ihm, am 6. August, kam Erich von dem Bach-Zelewski, der den Befehl
       widerrief. Aber da waren die schlimmsten Massaker schon passiert.
       
       An die erste Aufstandswoche unter der Ägide Reinefarths erinnert man sich
       in Polen daher sehr explizit. Umso aufmerksamer verfolgt man, was dieser
       Tage auf Sylt geschieht: Am Westerländer Rathaus wurde am 31. Juli eine
       Mahntafel enthüllt, die Reinefarths Verantwortung benennt und sich bei den
       Opfern entschuldigt (taz berichtete).
       
       Dieser Akt hat lange auf sich warten lassen: 1979 starb Reinefarth
       unbehelligt auf Sylt. „Zu Lebzeiten, aber auch noch 2013 war das Thema
       tabu“, sagt Ernst-Wilhelm Stojan, der frühere Westerländer
       SPD-Fraktionsvorsitzende. „Wenn ich es ansprach, hieß es, was willst du
       denn, das ist längst vergessen.“
       
       Außerdem, sagt der Schweizer Historiker Philipp Marti, der jüngst eine
       kritische Reinefarth-Biografie edierte, „entsprach er nicht dem Klischee
       des NS-Täters“. Reinefarth sei höflich aufgetreten, und niemand habe sich
       ihn als Verbrecher vorstellen können. „Als NS-Verbrechen galt in den
       1950er-Jahren zudem vor allem der Holocaust – und nicht militärische
       Handlungen“, sagt der Historiker Marti.
       
       Diese Haltung erklärt zum Teil, warum Reinefarth trotz zweier Verfahren nie
       verurteilt wurde. „Die Juristen des ersten Verfahrens von 1958 erlagen wohl
       dem Deutungsmuster, dass ein NS-Täter unzivilisiert wirken müsse“, sagt
       Marti. Aufgekommen war das Thema durch einen DDR-Propagandafilm; danach
       wurde ein paar Wochen lang „schlampig und oberflächlich ermittelt“, wie
       Marti sagt.
       
       Ernsthaftere Ermittlungen nahm die Justiz 1962 auf, nachdem der Historiker
       Hans von Krannhals eine wissenschaftliche Abhandlung über den Warschauer
       Aufstand ediert und Reinefarth beschuldigt hatte. Auch dieses Verfahren
       führte nie zur Anklage, denn die Beweisführung war schwierig: „Das
       juristische Kriterium war, dass man jedes Verbrechen konkret nachweisen
       musste“, sagt Marti.
       
       Das gelang im Fall Reinefarth nicht, weil sich die Zeugen – meist
       Ex-NS-Militärs – an nichts erinnerten. Und polnische Überlebende des
       Aufstands befragte man wegen der deutsch-polnischen Spannungen infolge des
       Kalten Krieges nicht. Das wäre laut Marti nur für ein Hauptverfahren in
       Frage gekommen.
       
       So aber konnte Reinefarth unbehelligt auf Sylt regieren und obendrein in
       den schleswig-holsteinischen Landtag einziehen. Aber wer hat ihn gewählt,
       obwohl gegen ihn ermittelt wurde? „Reinefarth kandidierte auf Sylt für den
       BHE, eine Vertriebenenpartei, die man heute als rechtsradikal einstufen
       würde“, sagt Stephan Link, Gedenkstättenbeauftragter der Nordkirche.
       
       Dieser Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) war 1952 auf
       Westerland stärkste Fraktion; gemeinsam mit dem konservativen Westerländer
       Ordnungsblock stimmte er für Reinefarth, SPD und SSW gegen ihn. 1957 wurde
       Reinefarth für weitere zwölf Jahre im Amt bestätigt, bevor er 1963 dann
       doch zurücktrat.
       
       Reinefarths Wahl in den Kieler Landtag 1958 verlief weniger spektakulär:
       Der BHE war zur Splitterpartei geworden. „Reinefarth kam nicht über ein
       Direktmandat, sondern per Listenplatz ins Parlament“, sagt Marti.
       
       All dies hat der Historiker für sein Buch aufgearbeitet. Sein Projekt sei,
       parallel zu einer Anfrage aus Polen, „der Anstoß für die Mahntafel
       gewesen“, sagt Ernst-Wilhelm Stojan. Die Gemeinde Westerland hat das Buch
       finanziell unterstützt, und sie tut noch mehr: Vertreter aus Politik und
       Kirche werden vom 4. bis 6. August nach Warschau fahren. Dort existiert
       seit 2004 ein Museum des Aufstands, das zum 70. Jahrestag eine Ausstellung
       eröffnet. Die Sylter werden dort Blumen niederlegen und sich entschuldigen.
       „Es hat zu lange gedauert, aber immerhin tut sich jetzt etwas“, sagt die
       Westerländer Pastorin Anja Lochner.
       
       1 Aug 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Petra Schellen
       
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