# taz.de -- Politische Gewalt in Israel: Zorn auf ganzer Linie
       
       > Kein Tag ohne Steine und Tränengas: Nur eine Straßenbahnlinie fährt von
       > West- nach Ostjerusalem – quer durch alle Konfliktfelder.
       
 (IMG) Bild: Unfall oder Anschlag? An der Haltestelle am „Ammunition Hill“ raste Anfang November ein palästinensicher Autofahrer in eine Menschenmenge.
       
       JERUSALEM taz | Kifah Kimiri lässt ihren Schleier neuerdings zu Hause, wenn
       sie mit der Straßenbahn zur Arbeit fährt. Die 38-jährige Palästinenserin
       ist die lästigen Blicke leid. Es war Krieg im Gazastreifen, als sie im Zug
       von einer, wie sie sagt, „frommen jüdischen Frau“ beschimpft wurde. „Der
       Fahrer hat sich zwischen uns gestellt, um mich zu beschützen“, sagt Kimiri.
       
       Sie ist eine zarte Frau mit dezentem Lidschatten, sieben Kinder erzieht sie
       allein. Ganze drei Stationen sind es von ihrem Viertel Wadi el-Dschoos bis
       zur Jaffastraße in Westjerusalem, wo sie den Lebensunterhalt für sich und
       die Kinder als Putzfrau in einem israelischen Hostel verdient. „Ich trug
       einen Hidschab, als es passierte.“ Jetzt verzichtet sie bewusst auf das
       Kopftuch. „Denn jetzt wissen sie nicht, dass ich Araberin bin“, sagt
       Kimiri. „Jetzt lassen sie mich in Ruhe.“
       
       Seit Wochen vergeht kein Tag in Jerusalem, ohne dass Steine und
       Feuerwerkskörper fliegen und ohne dass israelische Sicherheitskräfte die
       oft vermummten palästinensischen Jugendlichen mit Tränengas und
       Schreckgeschossen auseinanderzutreiben versuchen. Jedes zerstörte oder in
       Brand gesteckte Auto, jede Verhaftung und jeder Verletzte schüren neuen
       Zorn.
       
       Die Anspannung ist auch in der „Linie 1“ zu spüren, der bislang einzigen
       Strecke der Stadtbahn. Alle paar Minuten fährt ein Zug vom Herzl-Berg durch
       Westjerusalem bis zur Altstadt und dann entlang der Demarkationslinie zum
       eingemeindeten palästinensischen Stadtviertel Schoafat in Ostjerusalem. Von
       dort aus geht es weiter bis nach Pisgat Seew, einer israelischen Siedlung
       im Einzugsbereich vom Rathaus Großjerusalems.
       
       Seit drei Jahren gehört die hochmoderne, silberfarbene Bahn zum Stadtbild.
       Für Pendler, die früher auf die nach Benzin stinkenden, überfüllten Busse
       angewiesen waren, ist sie ein großer Gewinn. Die Abteile sind klimatisiert
       und großzügig. Der Geräuschpegel der Motoren ist so niedrig, dass man ihn
       kaum wahrnimmt. Die Fenster haben kugelsichere Scheiben, und die Abteile
       sind übersichtlich für das Sicherheitspersonal, das regelmäßig vor allem
       die Fahrgäste kontrolliert, die arabisch aussehen.
       
       ## Keine Nachsicht für arabsiche Schwarzfahrer
       
       „In letzter Zeit sind weniger Palästinenser in der Bahn“, stellt Kifiri
       fest. Es sitzen fast nur noch Israelis im Zug. Dass auch das Personal der
       Stadtbahn auf die Leute unterschiedlich reagiert, ärgert die
       Palästinenserin. „Wenn ein Jude kein Ticket hat, drücken die Kontrolleure
       oft ein Auge zu, ein Araber, der schwarzfährt, zahlt immer Strafe.“
       
       Wer an der Haltestelle von Schoafat einsteigt, hat keine andere Wahl, als
       schwarzzufahren. Es sei denn, er hat sich vorher schon einen Fahrschein
       besorgt. Der Ticketautomat ist komplett zerstört, und in der Bahn kann man
       nur abstempeln.
       
       Direkt neben der Station, an der israelische Sicherheitsleute Posten
       bezogen haben, ist die Moschee, in der Mohammed Abu Chdeir täglich betete.
       Das Elternhaus des 16-jährigen Palästinensers liegt keine zehn Meter
       entfernt. Nur ein paar Schritte musste der Junge laufen. Seinen Mördern
       reichte das kurze Stück, um ihn einzufangen.
       
       ## Immer öfter taucht in der Presse ein Wort auf: Intifada
       
       Der grausame Mord an Abu Chdeir, den radikale ultraorthodoxe Juden vor vier
       Monaten entführten und lebendig verbrannten, war ein erster Trigger, der
       die latente Unruhe in Jerusalem explodieren ließ. Seither heizt eine Serie
       politischer Gewaltakte die Eskalation zwischen Israelis und Palästinensern,
       zwischen Juden und Muslimen an.
       
       Am „Amunition Hill“, zwei Stationen nachdem Kimiri aussteigt und drei vor
       Schoafat, kam es jüngst zu einem Unfall. Oder Anschlag. Je nachdem, welchem
       Narrativ man folgt. Ein Palästinenser raste mit seinem Pkw in eine wartende
       Menschenmenge, tötete zwei Menschen und wurde selbst erschossen. Gut eine
       Woche später gipfelte die Gewalt in dem versuchten Mordanschlag auf einen
       ultranationalen Aktivisten. Wieder wurde der Angreifer erschossen. Immer
       öfter taucht seither in der lokalen Berichterstattung ein Wort auf:
       Intifada.
       
       „Nein, diesmal ist es kein organisierter Aufstand.“ Said Abu Chdeir
       schüttelt den Kopf. „Die Unruhen sind spontan“, meint er, aber so war es
       bei der ersten Intifada Ende der 80er Jahre auch. Said ist ein entfernter
       Onkel von Mohammed Abu Chdeir. Vis-à-vis vom Elternhaus des Jungen hat er
       ein Fastfood-Restaurant. Das Geschäft geht schlecht.
       
       ## Das ganze Dorf kam und zerstörte die Haltestelle
       
       Seit dem Mord an Mohammed „bleibt hier kein Gast mehr sitzen“. Said Abu
       Chdeir hasst die Bahn, die ihm Parkmöglichkeiten vor dem Lokal raubte,
       außerdem komme es immer wieder zu Staus. „Als Mohammed getötet wurde, kam
       das ganze Dorf her und zerstörte die Haltestelle.“
       
       An ein friedliches Miteinander, wie die Betreiber der Stadtbahn das Projekt
       einst propagierten, glaubt der Palästinenser schon lange nicht mehr. „Wir
       sprechen verschiedene Sprachen, haben verschiedene Religionen und
       Kulturen“, sagt er und schneidet Fleisch für ein Schawarma-Sandwich. Nur
       eine Trennung könne eine Beruhigung bewirken, sagt er, nur „zwei Staaten
       für zwei Völker“.
       
       Als Bürger der Stadt Jerusalem hätten die Leute aus dem eingemeindeten
       Viertel die Möglichkeit, die israelische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
       Ein Privileg, von dem nur wenige Gebrauch machen.
       
       ## 88 Häuser, in denen 1.500 Palästinenser leben, stehen unter Abrissbefehl
       
       Abu Chdeir treibt nichts nach Jerusalem, wie er sagt, doch die frommen
       Muslime aus Schoafat fahren an Feiertagen in die heilige Stadt, um in der
       Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg zu beten. Allerdings nur Frauen und
       Männer älter als 50 Jahre, denn so schreibt es Israel vor. Die begrenzten
       Besuchsrechte der Moschee schaffen Unmut unter den Palästinensern.
       
       Die Besatzungsmacht sei verantwortlich dafür, mahnen sie, den Gläubigen das
       Gebet zu ermöglichen und die heiligen Stätten zu schützen, vor allem vor
       den jüdischen Tempelberg-Aktivisten, die am Status quo kratzten und die
       Vertreibung der Muslime verfolgten.
       
       Am Fuß des Tempelbergs, gleich hinter den Mauern der Altstadt, beginnt
       Silwan, das mit rund 50.000 Palästinensern eng bewohnte Stadtviertel, in
       dem einst der jüdische König David gelebt haben soll. 88 Häuser, die rund
       1.500 Palästinenser beherbergen, stehen unter sofortigem Abrissbefehl. Sie
       sollen Platz machen für einen archäologischen Park.
       
       ## „Statt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer“
       
       Die Straßen von Silwan sind schmutzig, in manchen Ecken riecht es scharf
       nach Abwasser. Leere Plastiktüten und Konservendosen liegen auf dem
       Bürgersteig. „Wir zahlen städtische Abgaben“, schimpft Fakhri Abu Diab,
       Aktivist des palästinensischen Komitees zum Schutz der Häuser von Silwan,
       „aber anstatt unseren Müll wegzuräumen, kaufen sie Bulldozer, um unsere
       Häuser abzureißen.“
       
       Dass der Unmut vor allem sehr junger Palästinenser nun fast täglich in
       Straßenkämpfe mündet, schiebt der 52-jährige Aktivist auch dem jüngsten
       Zuzug Dutzender national-religiöser Israelis in das Viertel zu. „Es ist
       eine Entwicklung, die uns jeden politischen Horizont raubt“, sagt der
       Palästinenser. An den drei umstrittenen Häusern wehen provozierend
       blau-weiße Nationalflaggen mit dem Davidstern.
       
       Abu Diab verurteilt das „zweierlei Maß“ des israelischen Rechtssystems.
       „Wenn ein Palästinenser mit seinem Auto einen Israeli anfährt, wird er
       erschossen, umgekehrt passiert gar nichts.“ Ende Oktober starb ein
       fünfjähriges palästinensisches Mädchen, nachdem es von einem israelischen
       Siedler angefahren worden war. Die Polizei spricht von einem Unfall, die
       Palästinenser von einem gezielten Mordanschlag.
       
       ## Die Bahn sollte einmal ein Mittel der friedlichen Koexistenz sein
       
       Der palästinensische Fahrer, der an der „Amunition Hill“ zwei Menschen
       tötete, stammte aus Silwan. Jeden Tag fährt der 68-jährige Abraham Krieger
       an der Haltestelle vorbei. Krieger lebt in der Siedlung Pisgat Seew und
       pendelt in der „Linie 1“ regelmäßig zu seiner Jeschiwa, einer Tora-Schule
       in Jerusalem.
       
       Angst hat der bärtige Israeli mit der Kipa nicht, obschon der Zug oft mit
       Steinen angegriffen werde, wenn er durch Schoafat fährt. „Von uns hat
       keiner verstanden, warum die Bahn ausgerechnet hier langfährt“, sagt der
       fromme Jude, der vor 45 Jahren aus den USA einwanderte und mit breitem
       Akzent Hebräisch spricht.
       
       Die Bahn sollte ursprünglich von beiden Völkern genutzt und damit ein
       Mittel zur friedlichen Koexistenz werden. „Das ist es immer noch“, meint
       Krieger, der beobachtet haben will, „wie Palästinenser für ältere Israelis
       ihren Sitzplatz räumen und auch umgekehrt“. Pisgat Seew als Siedlung zu
       bezeichnen hält er für Unsinn. „Das hier ist Jerusalem“, meint er kurz vor
       der Endstation und fragt ungläubig, ob Israel denn alles Land zurückgeben
       solle. Frieden werde es so oder so erst geben, „wenn der Messias kommt“.
       
       6 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Knaul
       
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