# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Bruchband für Berlin
       
       > Warum gab es die Mauer zwischen den beiden deutschen Staaten? Und warum
       > gibt es sie nicht mehr? Oder ist sie noch da?
       
       Die Mauer tut mir leid. Das einst so stolze und kühne, alle Welt
       einschüchternde Bauwerk, das Berlin teilte wie ein Axthieb, wie Moses das
       Meer, wie eine Mauer eben, rücksichtslos, grobschlächtig, ein klinisch
       weißes Band aus Beton, grell erstrahlend im Licht der Peitschenlaternen -es
       ist im Lauf der Jahre zu einem posthumen Touristenspektakel herabgesunken.
       
       Über zehn Millionen Besucher sind es inzwischen, die pro Jahr in die Stadt
       kommen, um eine Mauer zu sehen, die es nicht mehr gibt. Eigentlich müssten
       die Berliner dem damaligen SED-Chef Walter Ulbricht unendlich dankbar sein
       für seine Absicht, keine Mauer zu errichten, die erfolgreichste PR-Maßnahme
       aller Zeiten. Die Mauer, die nicht vorhandene Mauer, ist das Beste, was
       dieser Stadt passieren konnte.
       
       Alle fünf Jahre versammeln sich Politiker und Medien vor ihren bizarren
       Überresten, um mit dem Finger auf sie zu zeigen. Die staatstragenden,
       hochnotpathetischen Weihe- und Gedenkstunden reißen nicht ab. Was die
       Zeitzeugen in Endlosschleifen erzählen, nervt beträchtlich. Inzwischen weiß
       wirklich jeder, wo er war, als die Mauer fiel - sogar wenn er damals noch
       nicht lebte und erst recht, wenn er sich an nichts erinnern kann. Allen
       voran jene Prominente, vor deren Maueranekdoten uns die Mauer bewahrt
       hätte, gäbe es sie noch.
       
       ## Vom Mauerfall nichts mitbekommen
       
       Jürgen Klopp beispielsweise saß zu Hause, und zwar vor einem Fernseher.
       Dort hockte dem Vernehmen nach auch Rapper Smudo und weinte. Angela Merkel,
       warum auch immer, befand sich in der Sauna. Frank Walter Steinmeier
       berichtet, er habe in Gießen an seiner Doktorarbeit gearbeitet. Axel
       Schulz, falls jemand den kennt, lag allein auf seiner Couch. Wolfgang
       Stumph hatte zu tun in der Semperoper. Und David McAllister war
       Wehrpflichtiger in einer Kaserne. Und Volker Schlöndorff flog mit dem
       Flugzeug über den Atlantik. Und Chris de Burgh kann sich nicht erinnern.
       Und sogar Anastacia weiß noch genau, irgendwo in den USA vor sich hin
       pubertiert und vom Mauerfall nichts mitbekommen zu haben.
       
       Damit liegt die Sängerin nicht einmal falsch, das Wort "Mauerfall" ist
       irreführend. Es klingt nach Erstürmung der Bastille. Aber die Berliner
       Mauer fiel nicht, an keiner Stelle. Sie öffnete sich zunächst an einigen
       Stellen und wurde dann porös wie ein altes Bruchband. Vorausgegangen war
       dem diffusen Diffusionsgeschehen keine friedliche Revolution, es gab weder
       flammende Reden noch kühne Attacken. Es war allein der dumpfe Druck der
       Massen - an deren Spitze übrigens keine Idealisten standen, keine Helden.
       Es handelte sich um Leute, die das Ziel hatten, sich auf der anderen Seite
       der Mauer mit Bananen bewerfen zu lassen.
       
       ## Die Mauer ist nicht gefallen
       
       Es gibt Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Mauerteile von einem Kran nach
       oben gezogen werden. Kein einziges fiel. Und es gibt Bilder, die zeigen,
       wie unzählige Menschen sich ein kleines Stück Mauer aus der Mauer pickten.
       Nicht unbeugsame Bürgerrechtler aus der DDR sorgten für das Verschwinden
       des Bauwerks, es waren die Souvenirjäger, die es Stück für Stück abtrugen.
       Die Mauer wurde regelrecht abgenagt, sie wurde ausgeweidet. Ein Ende ohne
       Würde sicher, ein ruhmloses, ein deprimierendes Ende. Aber kein Fall.
       
       Zu bedauern ist die Mauer leider auch für die Feinde, die sie immer hatte
       und hat. Nichts war leichter, nichts ist naheliegender, als gegen die Mauer
       zu sein. Der Hass auf die Mauer ist gratis, er ist ubiquitär.
       Dementsprechend langweilig und lieblos gestaltet sich die Erinnerung. Ein
       Mauerdenkmal besteht aus einem fossilen Mauerteil sowie Fotos von anderen
       Mauerteilen. Manchmal gibt es Linien auf dem Boden, meistens gibt es
       nichts. Überall in der Stadt gehen Menschen herum, die auf nichts zeigen
       und sagen, da sei die Mauer gewesen. Am schönsten ist das Nichts vorm
       Brandenburger Tor, wo es täglich von Aberhunderten bestaunt wird.
       
       Drei, ganze drei Leute fallen mir ein, die zur Berliner Mauer eine von der
       Weltbevölkerung abweichende Meinung hegen. Einer von ihnen ist tot, der
       andere wird schräg beäugt, und die dritte wird für verrückt gehalten. Ich
       rede von dem Dichter Peter Hacks, von dem Maler Florian Havemann und von
       der Modellbauerin Eija Riitta Eklöf-Berliner-Mauer. Die Dame kommt aus
       Schweden und heißt so, weil sie die Berliner Mauer geheiratet hat.
       
       Das war 1979, und auf Wikipedia lässt sich nachlesen, wie diese Ehe
       geschlossen wurde, nämlich mit Hilfe eines Animisten, der mit der Mauer
       kommunizierte und dann stellvertretend für sie das Ja-Wort gab. Die Braut
       bezeichnet sich als objektophil, damit soll eine "extrem seltene" sexuelle
       Orientierung gemeint sein, die sich auf unbelebte Gegenstände richtet. Für
       Eklöf-Berliner-Mauer war es "the best and sexiest wall ever existed". Seit
       1989 ist sie verwitwet.
       
       ## Die Mauer war richtig
       
       Florian Havemann, Sohn des DDR-Chefdissidenten Robert Havemann, floh 1971
       am Boden eines leeren Tankwagens in den Westen. Wolf Biermann hat diese
       Flucht damals in dem Lied "Enfant perdu" missbilligt und "Flori Have" als
       Deserteur bezeichnet. Havemann revanchierte sich später, indem er Biermann
       ein Bratkartoffelverhältnis mit Margot Honecker nachsagte. Der Mann,
       zuletzt für die PDS Verfassungsrichter in Brandenburg, gilt als nicht
       unkapriziös. Zur Mauer hat er klare Ansichten.
       
       Sie sei okay, richtig und notwendig gewesen, aber für ihn nicht geeignet,
       weshalb er habe abhauen müssen. Das ist ein Argument, mit dem die gesamte
       DDR-Bevölkerung sich hätte anfreunden können. Die Mauer an und für sich:
       eine prima Sache, aber bitte ohne uns. Wenn alle so gedacht und gehandelt
       hätten, wäre aus der DDR ein menschenleeres Land geworden, und in seiner
       Mitte hätte es ein aus allen Nähten platzendes Westberlin gegeben, eine
       Frontstadtburg, bewehrt von einem uneinnehmbaren Mauerwall.
       
       Für den Dichter Peter Hacks schließlich war die Mauer das schönste Bauwerk
       überhaupt. In seinem Gedicht "Das Vaterland" schrieb er "Wer kann die
       Pyramiden überstrahlen? / Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower? /
       Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen / Der Erdenwunder schönstes war
       die Mauer. / Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren. / Ich glaub, ich hab
       mein Herz an sie verloren."
       
       Hacks hielt die Gegend westlich der Mauer für unbewohnbar, nach der Wende
       erwog er eine Guillotine für Bürgerrechtler. Wer hofft, das Gedicht sei
       ironisch gemeint, irrt. Aber dass es am Sonntag bei dem Bürgerfest am
       Brandenburger Tor, gemeinsam von Udo Lindenberg, Clueso und den
       Fantastischen Vier vorgetragen werden soll, ist noch unbestätigt.
       
       Was am Ende bleibt, ist ein für die Nachwelt immer unbegreiflicher
       werdendes Mauermysterium, das mit Heidegger so formuliert werden könnte:
       Warum gab es die Mauer überhaupt und nicht vielmehr nicht? Immerhin 28
       Jahre war sie da, geduldet, ins Stadtleben integriert, eine
       architektonische Selbstverständlichkeit, wie für die Ewigkeit einbetoniert.
       
       Und jetzt sind es auch schon wieder 25 Jahre, in denen die Mauer mit der
       gleichen Selbstverständlichkeit komplett wie nie dagewesen weg ist. Falls
       hier ein Zyklus vorliegt, sollte sich niemand wundern, wenn es in drei
       Jahren Straßensperren gibt und die Mauer mitten durch Berlin plötzlich
       aufersteht. Sicher, es gibt keine Anzeichen für diese Annahme. Überhaupt
       keine. Niemand hat die Absicht … Alles klar.
       
       8 Nov 2014
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Berliner Mauer
 (DIR) DDR
 (DIR) BRD
 (DIR) Gedenken
 (DIR) Touristen
 (DIR) Joachim Gauck
 (DIR) Europawahl 2014
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ehre den Spinnern!
       
       Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall Joachim Gauck gegen die
       NPD: ein offener Brief an den Bundespräsidenten.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Wurst contra Latte
       
       Euro-Urne (4) Heute erklärt uns Rayk Wieland, warum er niemals die Grünen
       wählen würde.