# taz.de -- Die Wahrheit: Ehre den Spinnern!
       
       > Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall Joachim Gauck gegen die
       > NPD: ein offener Brief an den Bundespräsidenten.
       
 (IMG) Bild: Halten Sie, Herr Gauck, mal inne!
       
       Sehr geehrter Herr Gauck,
       
       ich kenne und bewundere Sie für Ihren Kampf für die Freiheit, das Wort
       Freiheit in aller Freiheit möglichst oft und sinnlos zu kombinieren, und
       für Ihr nie nachlassendes Engagement, uns allen damit beachtlich auf den
       Wecker zu fallen. Sie sind ein Mann des Wortes, wenn auch nur dieses einen
       Wortes, des ominösen Wortes Freiheit - aber wir alle haben uns inzwischen
       an Ihren Freiheitstick gewöhnt und lauschen den täglichen Ansprachen, die
       Sie halten, wie dem Rauschen der Wasserleitung. So weit, so klar.
       
       Leider ist in den letzten Tagen ein weiteres Wort zu Ihrem Sprachschatz
       hinzugekommen, und ich möchte Sie hiermit dringend auffordern, davon
       Abstand zu nehmen. Es handelt sich um das Wort Spinner. Streichen Sie es,
       verehrter Herr Bundespräsident, verbannen Sie es bitte unverzüglich aus
       Ihrem Vokabelschatz.
       
       Es ist nichts weniger als ein Skandal, dass das Bundesverfassungsgericht in
       dieser Woche entschieden hat, dass Sie als Bundespräsident dieses Wort
       selbstständig verwenden dürfen. Mag sein, es ist rechtlich nicht zu
       beanstanden, wenn Sie Rechtsradikale als „Spinner“ bezeichnen. Die
       Entscheidung ist schön für Sie, schön für die Richter in Karlsruhe und
       schön für die Nazis, die sich auf die Weise von der höchste Instanz geadelt
       fühlen dürfen – nicht schön ist sie für uns, für uns Spinner. Wir sind
       empört, wir sind betroffen, und wir sind nur deshalb nicht „am Boden
       zerstört“, weil das eine bescheuerte militaristische Formulierung ist.
       
       Ohne Grund und ohne Not werden wir, seit Menschengedenken darauf bedacht,
       die Stupidität des normalen Alltagsvollzugs mit kreativen Einsprengseln zu
       versehen, in einen Topf geworden mit Leuten, die alles mögliche sind -
       Rassisten, Dumpfbacken, Unmenschen - aber Spinner? Niemals! Denn Spinner
       ist ein Ehrentitel. Spinner zu sein heißt den Mut zu haben, die Menschheit
       zu bereichern. Mit verrückten Dingen. Mit versponnenen Dingen. Es ist eine
       Unverschämtheit von Ihnen, Herr Gauck, uns mit der beknacktesten aller
       Menschheitsplagen, den alten und neuen Nazis, auf eine Stufe zu stellen.
       
       Hitler war kein Spinner, die Konzentrationslager waren keine
       Fantasiegebilde. Der Holocaust – ein reines Hirngespinst? Das meinen Sie
       wohl nicht, Herr Bundespräsident. Weder die Angehörigen des NSU noch ihre
       Helfer haben je gesponnen. Der rechte Mob, die Rechtsradikalen sind in
       allem, was Sie tun, das Gegenteil von Spinnern. Und wenn sie an die Macht
       kommen sollten, wäre es eine ihrer ersten Maßnahmen, die Menschen, die sie
       für Spinner halten, zu drangsalieren und wegzusperren.
       
       ## Mörder sind Mörder, und keine Irren
       
       Nennen Sie, Herr Gauck, Rechtsradikale Rechtsradikale! Nennen Sie Mörder
       Mörder! Nehmen Sie sich die Freiheit, das, was Sie meinen, präzis zu
       benennen. Und verunglimpfen Sie nicht weiter uns unbescholtene Spinner!
       
       Im Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass eine Welt ohne Spinner, die
       sie offenbar anstreben, nicht nur undenkbar ist, sondern auch ungenießbar,
       ja unaushaltbar. Spinner sind Religionsgründer, Entdecker und
       Weltverbesserer. Sie sind das Salz in der ansonsten reichlich ungesalzenen
       Suppe des Alltags. Sie kommen plötzlich an mit einem Ding ohne Ecken und
       nennen es Rad. Sie machen sich auf den Weg zu den Indianern außerhalb
       Indiens. Sie bringen etliche Gewürze heillos durcheinander, und siehe, es
       gibt Currywurst. Frisuren, Rolltreppen, Kaugummis, Asterix-Hefte - alles
       ein Werk, alles Werke von Spinnern. Ich kann daran beim besten Willen
       nichts Verwerfliches finden.
       
       Auch mich persönlich werden Sie, sehr geehrter Herr Gauck, wenn Sie diese
       Zeilen lesen, als Spinner bezeichnen. Sehr gern. Ich bedanke mich.
       Meinetwegen können Sie das tun. Aber bitte nicht jeden dahergelaufenen
       Wald-und-Wiesen-Antisemiten, nicht jeden empathiebefreiten Straßenfascho,
       und bitte nicht die Fans des Stumpfsinns.
       
       Der größte Spinner der Welt – war es Jesus, Marx, Walt Disney? Man wird
       ewig darüber streiten. In vielen Städten heißen Straßen nach Spinnern, gibt
       es Denkmäler von Spinnern, die als Schriftsteller verehrt werden. Gleich
       hinter Ihrem Amtssitz, dem Schloss Bellevue, befindet sich zum Beispiel die
       Klopstockstraße. Parallel dazu verläuft die Lessingstraße. Ganz in der Nähe
       liegt die Akademie der Spinner, pardon: der Künstler. Sollten das die
       Rechtsradikalen sein, sehr geehrter Herr Bundespräsident, die Sie und das
       Verfassungsgericht im Auge haben? Ist das Ihre Botschaft? Und glauben Sie
       selbst daran?
       
       Ich habe eine bessere Idee und die – wenn auch nur leise, schier lautlose –
       Hoffnung, Sie noch zu stoppen. Halten Sie, Herr Gauck, mal inne! Und halten
       Sie, vor allem, uns da raus!
       
       Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr
       
       RAYK WIELAND
       
       14 Jun 2014
       
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