# taz.de -- Historiker über Vorherrschaft in Europa: „Was ist Europa und wo hört es auf?“
       
       > Der irische Historiker Brendan Simms über die „deutsche Frage“, Putins
       > geopolitisches Konzept und Rhetorikseminare von Walter Jens.
       
 (IMG) Bild: Ein Krater in der ostukrainischen Region Lugansk. Solange Europas Grenzen nicht klar sind, wird es Spannungen geben, sagt Historiker Simms.
       
       taz: Herr Simms, Sie besuchten in Dublin die Deutsche Schule. Wie kam es
       dazu? 
       
       Brendan Simms: Meine Mutter stammt ursprünglich aus Rostock und ist in Köln
       aufgewachsen. Mein Vater ist Ire und ich bin irischer Staatsbürger.
       
       Sie selbst wurden 1967 im unabhängigen Teil Irlands geboren. Im britischen
       Teil der Insel, in Nordirland, tobte Ihre gesamte Jugend über der Konflikt
       zwischen Republikanern und Unionisten. Inwieweit hat Sie dies beeinflusst? 
       
       Die Nachrichten dazu wurden jeden Abend kontrovers diskutiert. Wir haben
       ein Ferienhaus in Donegal, in der Grafschaft Ulster. Das ist im Norden aber
       Teil der unabhängigen Republik Irland. Um dorthin zu gelangen, mussten wir
       die Grafschaft Fermanagh durchqueren, die war britisch. Also wurden wir
       auch von britischen Soldaten kontrolliert.
       
       Aber um es gleich vorwegzusagen: Ich bin ein Freund Großbritanniens. Ich
       halte nationalistische Bestrebungen, sofern sie nicht demokratisch
       legitimiert sind, für falsch. Mir wäre es lieber, die Insel Irland wäre
       politisch geeint. Aber ob dies nun ein Gesamtstaat im Verbund des
       Vereinigten Königreiches oder der Europäischen Union wäre, das scheint mir
       eher zweitrangig.
       
       Sie lebten mit ihren Eltern auch eine Zeit lang in Deutschland. Es heißt,
       Sie hätten als Kind mit Hosea Dutschke gespielt. Waren Ihre Eltern mit
       Gretchen und Rudi Dutschke befreundet? 
       
       Eher bekannt. Mein Vater hat mir erzählt, wie ich mich mit dem jungen Hosea
       gestritten habe, als uns die Dutschkes besuchten. Es gab Tränen, und
       Gretchen Dutschke sagte: Ich weiß nicht, wo die das herhaben, diese
       Aggressivität, von uns bestimmt nicht.
       
       Ihre Eltern waren keine 68er-Aktivisten? 
       
       Nein, nicht in dem Sinne der Dutschkes. Aber es gibt ein Bild von mir und
       dem kleinen Hosea, das habe ich irgendwo zu Hause.
       
       Sie lebten dann in Irland, haben später aber in Tübingen Geschichte
       studiert. Haben Sie auch Rhetorikseminare bei Walter Jens belegt? 
       
       Ich habe einige Vorlesungen von Walter Jens besucht, aber keine Seminare.
       Er war eine beeindruckende Gestalt. Ich orientierte mich aber an den
       Historikern.
       
       Mit Ihrem Buch „Kampf um Vorherrschaft“ formulieren Sie den Anspruch einer
       deutschen Geschichte Europas von 1453 bis heute. Warum diese Betonung auf
       dem Deutschen, ist eine deutsche Geschichte nicht automatisch auch eine
       europäische? 
       
       Es gibt zur deutschen und europäischen Geschichte viele Werke. Aber es gibt
       meines Wissens keine Darstellung, die als Dreh- und Angelpunkt die deutsche
       Frage in Europa hat. Diese Lücke in der Literatur versuche ich zu füllen.
       
       Die deutsche Frage – die Geschichte Deutschlands, des Heiligen Römischen
       Reiches deutscher Nation – war bis zur europäischen Integration nach 1945
       von rivalisierenden und wechselnden Bündnissen geprägt. Sie war dominiert
       von Einkreisungsängsten, Untergangsparanoia und kriegerischen
       Hegemoniebestrebungen. Wo sehen Sie in der Geschichte das Relevante zur
       Erklärung heutiger Vorgänge? 
       
       Nun, ich sehe zum Beispiel die politische Struktur des Heiligen Römischen
       Reiches, die bereits ab dem Mittelalter eine Kultur des Konsens, des
       Föderalismus, der Verrechtlichung und der Debatten entwickelte. Die
       Europäische Union ist in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung und
       Erweiterung der im Heiligen Römischen Reich angelegten Ordnung. Mit ihren
       Stärken und ihren Schwächen, die gerade in der außenpolitischen Schwäche
       der EU heute sehr deutlich werden.
       
       Mit der deutschen Reichsgeschichte verbinden sich auch sehr kriegerische
       Phasen, der Dreißigjährige Krieg, die zerstrittenen Fürstentümer, das
       klingt nicht nach ausgeprägter Debatten- und Konsenskultur? 
       
       Ich beziehe mich dabei auch eher auf die Zeit nach dem Westfälischen
       Frieden von 1648. Damals wurden Strukturen geschaffen, die solche
       Katastrophen wie den Dreißigjährigen Krieg ausdrücklich verhindern sollten.
       Die verschiedenen Parteien schufen eine Art Konkordanzsystem, um die
       Teilung zwischen Protestanten und Katholiken zu überwinden. Im Reichstag
       sollte eine Majorität nicht automatisch alle anderen an die Wand drücken
       können.
       
       Aushandlungen für Kompromisse wurden vereinbart, ein relativ weitreichendes
       Justizwesen geschaffen, Reichsgerichte eingerichtet. Das
       Reichskammergericht in Wetzlar sollte zwischen den Fürsten strittige
       Aspekte klären. Äußere Mächte wie Schweden und Frankreich sollten bei
       inneren Zwistigkeiten die Einhaltung des Systems garantieren, damit kein
       neuerliches Machtvakuum im Zentrum Europas entstünde.
       
       Dennoch wurden in Deutschland und um Europa fortwährend weiter Kriege
       geführt: Osmanen, Habsburger, Zaren, Napoleon – bis zum Aufstieg der
       totalitären Mächte und den zwei vernichtenden Weltkriegen? 
       
       Das Konkordanzsystem des Heiligen Römischen Reiches war zwar sehr gut
       geeignet, die internen Probleme Deutschlands zu lösen, aber nicht die
       außenpolitischen. Das Reich wurde 1806 von Napoleon und den französischen
       Revolutionsarmeen zerstört. Es war zum Objekt der europäischen Geschichte
       geworden.
       
       Deutsche Nationalbewegung und Gründung des deutschen Nationalstaates nach
       1870/71 boten bekanntlich auch keine sehr gute Lösung … 
       
       Nein. Dieses starke Deutschland hob die Ordnung Europas und der Welt aus
       den Angeln. Es vertrug sich nicht mit dem europäischen System. Die Lösung
       von deutscher und europäischer Frage waren immer zwei Seiten derselben
       Medaille. Ich befürworte von daher ein Unionsmodell, das über die lose
       Struktur des Heiligen Römischen Reiches und der jetzigen Europäischen Union
       hinausgeht: eine richtige parlamentarische Union nach angloamerikanischem
       Muster.
       
       Doch auch nach dem Ende des Kalten Kriegs gefährden Einkreisungsängste und
       Hegemoniebestrebungen die friedliche Entwicklung in Europa. Wiederholt sich
       im Konflikt mit Russland derzeit die Geschichte? 
       
       In gewisser Hinsicht, ja. Die Politik Putins tut zumindest einiges dafür.
       Russlands Annektion der Krim sowie die Aggression gegen die Ukraine sorgt
       die ganze EU, insbesondere die nordischen oder die bedrängten baltischen
       Staaten. Die russische Gefahr ist wieder da.
       
       Aus Putins Perspektive fragt man hingegen: Und warum schieben sich die EU-
       und Nato-Bündnisse immer weiter an unsere Grenzen heran, wiederholt sich
       hier nicht auch eine aggressive Strategie? 
       
       Für die Ukraine steht die EU- und nicht die Nato-Erweiterung zur Debatte.
       Herr Putin legt sich auch nicht direkt mit der Nato an, sondern mit Europa.
       Sein geopolitisches Konzept beinhaltet eine neurussische oder
       euroasiatische Union in Konkurrenz zur Europäischen Union. Die Ukraine ist
       nur ein Teil des Puzzles.
       
       Was macht die EU falsch, wie hätte man die jetzige Entwicklung verhindern
       können? 
       
       Unsere Probleme resultieren weniger aus der Erweiterung als aus der
       Schwäche, einen klaren Raum für die Europäische Union zu definieren: Was
       ist Europa und wo hört es auf? Solange dieses Vakuum besteht, wird es diese
       Spannungen mit den Russen geben.
       
       Innen- und Außenpolitik sind miteinander verknüpft. Ihre Faustformel lautet
       kurz gesagt: Unfreiheit im Inneren befördert Aggressivität im Äußeren. Aber
       auch Demokratien wie die USA handeln – wie etwa im Krieg um Vietnam –
       ungerecht. Schützt die Demokratie tatsächlich vor imperialistischer
       Aggression? 
       
       Man sollte eine solche These nicht verabsolutieren. Aber im Großen und
       Ganzen trifft sie doch zu. Ich würde ergänzend sogar sagen, dass
       Demokratien auch effektiver Krieg führen können.
       
       Weil? 
       
       Sie verstehen es über ihre demokratische Struktur, die Kräfte eines Landes
       besser einzubinden und zu mobilisieren.
       
       Ist der aktuelle Streit mit Russland einer um Hegemonie oder einer um
       Demokratie in Europa? 
       
       Um beides. Eine demokratische Ukraine betrachtet Putin als Gefahr für sein
       autoritäres Neu-Russland. Dabei sind es die Bürger der Ukraine, die sich
       mehrheitlich für Demokratie und Europäische Union aussprechen, und nicht
       irgendein „imperialistischer Westen“. Putins antiimperialistische Rhetorik
       gegen „den“ Westen greift reaktionäre Muster auf, die wir aus der
       Geschichte der totalitären Bewegungen kennen.
       
       Dem Westen wird oftmals vorgeworfen, der Anspruch weltweiter Gültigkeit
       seines Demokratiekonzepts sei imperialistisch. „Andere Völker, andere
       Sitten“, heißt es da, das müsse man respektieren. Wie antworten Sie auf
       solche Stimmen? 
       
       Ich vertrete im Prinzip einen menschenrechtlichen Universalismus. Auch in
       Bezug auf den Nahen Osten, Asien und Afrika. Für den Westen kann es keine
       Lösung sein, Diktaturen zu unterstützen. Bürger aus verbündeten Staaten wie
       Jordanien und Saudi-Arabien waren an den Anschlägen auf die USA bei 9/11
       beteiligt.
       
       Will man die Linie von alter antikolonialer und heutiger islamistischer
       Imperialismuskritik kappen, sollte man die reale Bündnispolitik ändern. Und
       nebenbei bemerkt: Auch das Zeitalter des klassischen Kolonialismus ist
       komplexer, als dies der Antiimperialismus darzustellen pflegt.
       
       Inwiefern? 
       
       In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der britische Kolonialismus
       in Afrika sehr stark mit dem Kampf gegen den Sklavenhandel verbunden.
       
       Aber er hat auch weniger noble Ziele verfolgt … 
       
       Freilich. Aber eben nicht nur. Die britische Flotte sollte auch die Routen
       des afrikanischen Sklavenhandels bis hin zur Arabischen Halbinsel
       unterbinden.
       
       Die deutsche Außenpolitik ist seit 1945 eher reaktiv, sollte sie es
       bleiben? 
       
       Niemand würde verlangen, dass sich Deutschland besonders in Afrika
       engagiert. Aber innerhalb der westlichen Allianz und ihrer Arbeitsteilung
       sind die Deutschen künftig sicher stärker im Osten Europas gefragt. Um
       weltpolitisch im Abseits zu bleiben, dafür ist Deutschland zu stark und
       seine Lage zu brisant.
       
       10 Nov 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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