# taz.de -- Kolumne Globetrotter: Die Mitmachdemokratie
       
       > Das Wahlrecht und die Verweigerung: Ein Dokumentarfilm über das
       > Nichtwählen in Frankreich stellt eine provokante These auf.
       
 (IMG) Bild: Politikverdrossen, aber nicht demomüde: Straßenszene in Paris aus dem Film „J'ai pas voté“.
       
       Die eine Krise hält Europa noch fest im Griff, da kommt schon die nächste:
       In Frankreich bahnt sich eine Krise der Demokratie an. Seit den großen
       Demonstrationen 2012 gegen die gleichgeschlechtliche Ehe scheinen
       homophobe, rassistische und chauvinistische Diskurse zur Normalität zu
       gehören.
       
       Im letzten Mai gewann der rechtsextreme Front National die EU-Wahlen mit
       fast 25 Prozent der Stimmen. Den Weg zur Wahlurne fand nicht einmal die
       Hälfte der Wahlberechtigten. Diese beunruhigende Entwicklung nahmen die
       französischen Journalisten Moise Courilleau und Morgan Zahnd zum Anlass für
       eine genauere Betrachtung. Im September erschien ihr Dokumentarfilm „J’ai
       pas voté“ (Ich hab nicht gewählt) auf YouTube. Wie sich schnell
       herausstellt, soll das 46-minütige Werk den Wahlverweigerern keineswegs ins
       Gewissen reden. Vielmehr wird eine provokante These an die nächste gereiht:
       
       Die Wahl dient nur der Legitimierung von politischen Eliten und ihren
       Interessen. Zwischen den Wahlgängen besitzt das Volk keinerlei Macht.
       Volksabstimmungen sind Scheininstrumente der direkten Demokratie. Das Volk
       ist naiv. Es ist, als wolle man die letzten WahlgängerInnen in ihren
       Überzeugungen erschüttern.
       
       ## Demokratie zutiefst undemokratisch
       
       Sowohl Narration als auch Argumentation des Filmes sind klar, zugänglich
       und gründlich recherchiert, die sympathischen Interviewgäste unterrichten
       an angesehenen Universitäten, schreiben für seriöse Zeitungen, engagieren
       sich mit Elan für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Einhelliger
       Konsens: Unsere repräsentative Demokratie ist zutiefst undemokratisch!
       
       Doch kann man es sich leisten, in einer von Bigotterie und Hass geprägten
       Zeit auf seine Stimme zu verzichten? Vor wenigen Wochen kam es zu
       Handgreiflichkeiten zwischen Passanten und dem US-Künstler Paul McCarthy,
       als dieser einen 24 Meter hohen aufblasbaren [1][Weihnachtsbaum] auf dem
       Pariser Place Vendôme installierte. Er sei kein Franzose, rief ihm ein
       Aggressor – umzingelt von schweigenden Schaulustigen –zu, sein Werk habe in
       Frankreich nichts verloren.
       
       Dabei war die Nationalität des Künstlers das kleinere Problem: Die
       Installation hatte auffallende Ähnlichkeit mit einem gigantischen
       Analstöpsel, dem bereits in der ersten Nacht die Luft rausgelassen wurde.
       
       Seine kritischen Thesen nimmt der Film „J’ai pas voté“ zwar nicht zurück,
       aber er sucht doch nach Auswegen. So wird beispielsweise der Philosoph
       Alain Badiou zitiert, der laut eigenem Bekunden 1968 das letzte mal an
       einer Wahlurne stand: „Das Wahlrecht war mal eine Eroberung. Jetzt ist es
       Zeit für was Neues.“ Courilleau und Zahnd erhoffen sich solche Neuerung
       etwa von einem Auslosungsverfahren von VolksvertreterInnen, wie es in der
       Antike praktiziert wurde.
       
       ## Überwiegend alte männliche Abgeordnete
       
       Versuche in Island und den kanadischen Provinzen von Ontario und British
       Columbia waren zwar von zweifelhaftem Erfolg, doch auch der
       Politikwissenschaftler Loïc Blondiaux will die Hoffnung nicht aufgeben: In
       Zukunft könnten Ideen, Erfahrungen und Interessen in den
       Entscheidungsprozess eingebracht werden, die von überwiegend alten,
       männlichen und akademischen Abgeordneten ausgeklammert werden.
       
       Auf einem vom Goethe-Institut und dem Cultural Innovation Network
       initiierten Symposium zelebrierten kürzlich internationale AktivistInnen
       den partizipativen Journalismus, der durch das Internet ermöglicht wurde.
       Die New Yorkerin Amy Goodman, 2008 mit dem Right Livelihood Award
       ausgezeichnet, begeisterte das Publikum mit ihrem alternativen
       Nachrichtenformat Democracy Now, das gezielt Themen aufgreift, die von den
       klassischen Medien einseitig abgehandelt oder ignoriert werden.
       
       Laut Goodman kann diese Form der medialen Partizipation die Welt
       verbessern. Ein freies Internet sei dafür eine unabdingbare Notwendigkeit,
       für deren Erhalt es sich zu kämpfen lohne. Auch wenn sich konstruktive
       Kritik, zumal in Internetforen, eher selten finden lässt, es wäre fatal,
       wenn am Ende der Front National die Debatte allein führen würde.
       
       19 Nov 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.theguardian.com/artanddesign/2014/oct/20/paul-mccarthy-butt-plug-sculpture-paris-rightwing-backlash
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Elise Graton
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Film
 (DIR) Paris
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Politikverdrossenheit
 (DIR) Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
 (DIR) Hühner
 (DIR) Globetrotter
 (DIR) Musik
 (DIR) Comic
 (DIR) Comic
 (DIR) Musik
 (DIR) Feminismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Kolumne Globetrotter: Stoische Beschreibung der Front
       
       Unser Autorin liest Erinnerungen von Élie Clément, ihrem Uropa. Er hat im
       1. Weltkrieg Tagebuch geführt. Kennengelernt hat sie ihn nie.
       
 (DIR) Kolumne Globetrotter: Die Hühner-Klang-Installation
       
       Unsere Autorin hat drei Jahre im Künstlerhausprojekt „KuLe“ in Berlin-Mitte
       gelebt. Dort traf sie auf Clowns, Bauchtänzerinnen und Geflügel.
       
 (DIR) Kolumne Globetrotter: Rotz und Wasser
       
       Teenagerspucke auf der Handinnenfläche muss nichts Schlechtes bedeuten –
       man unterschätze die heilende Kraft des Sabbers nicht.
       
 (DIR) Neues Album von Ariel Pink: Er sucht doch nur nach wahrer Liebe
       
       In einem Moment ehrlich, im nächsten schelmisch: Der Do-it-yourself-Pop von
       Ariel Pink ist toll – auch auf dem neuen Album „Pom Pom“.
       
 (DIR) Zeichnerin Barbara Yelin über ihr neues Buch: „Wegschauen passiert nicht einfach“
       
       Barbara Yelin thematisiert in ihrem Comicbuch „Irmina“ das Mitläufertum im
       Nationalsozialismus. Dafür hat sie sich von der Biografie ihrer Großmutter
       inspirieren lassen.
       
 (DIR) Comic von Chloé Cruchaudet: Statt in den Krieg ins Kleid
       
       Ein Deserteur, der zur Frau wurde, um den Behörden zu entkommen: Chloé
       Cruchaudets „Das falsche Geschlecht“ zeichnet die Story von Paul Grappe
       nach.
       
 (DIR) Neues Album von Sébastien Tellier: Volle Entfaltung in Rio
       
       Rebell, ESC-Star, Psychopath: Das Pariser Künstler-Enfant-Terrible
       inszeniert sich immer wieder neu. In „LAventura“ imaginiert er eine
       Kindheit in Brasilien.
       
 (DIR) Brasilianische Rapperin: Feminismus mit drei Streifen
       
       Das brasilianische Badgirl Karol Conka bietet im Album „Batuk Freak“ fette
       Reime mit ätzendem Humor. Nun kommt sie nach Deutschland