# taz.de -- Beinahe vergessene Autorin Lili Grün: „Ich bin so scharf auf Seele“
       
       > Lili Grün wurde im Holocaust ermordet. Der Band „Mädchenhimmel“ lässt
       > ihre Texte neu aufleben. Sie könnten von heute stammen. Fast.
       
 (IMG) Bild: Lili Grün, 1933, eines der wenigen erhaltenen Bilder von ihr.
       
       „I bin doch ned deppat, i fohr wieder z’haus“, ruft der österreichische
       Kronprinz Franz Ferdinand nach dem gescheiterten ersten Attentat im Juni
       1914. Er lässt seinen Tross sofort umkehren, das zweite, tödliche Attentat
       findet nicht statt, folglich fällt der Erste Weltkrieg aus, damit auch der
       Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg. Dafür ist Wien die bedeutendste
       Kulturmetropole der Welt, voller Psychoanalytiker und voller Juden. Denn
       auch der Holocaust fällt aus.
       
       Dies ist der Ausgangspunkt des wunderbaren Romans „Der Komet“ des
       [1][Journalisten Hannes Stein]. Beiläufig tauchen darin historische Figuren
       auf, denen in dieser Alternativgeschichte ein ganz anderes Schicksal
       widerfährt: So gelangen Leo Trotzki und Theodor Herzl nur als Wiener
       Kaffeehausliteraten zu einem gewissen Ruhm, während Anne Frank für ihr
       Lebenswerk den Literaturnobelpreis erhält, aber mit ihrer Art, „ungefragt
       ihre Ansicht zu jedem Thema unter der Sonne“ kundzutun – unschwer ist das
       reale Vorbild zu erkennen – manchem Zeitgenossen als „schreckliche
       Nervensäge“ gilt. Es ist die Geschichte eines monströsen Verlustes, die
       Stein in unterhaltsamer Form erzählt.
       
       Eine dieser vielen verlorenen Menschen ist die Wiener Autorin Lili Grün.
       Dem Aviva Verlag und der Herausgeberin Anke Heimberg ist es zu verdanken,
       dass ihr knappes Werk vor dem Vergessenwerden gerettet wurde. Nachdem dort
       in den vergangenen Jahren Grüns zwei Romane unter den neuen Titeln „Alles
       ist Jazz“ bzw. „Zum Theater!“ erschienen, liegt nun erstmals eine Sammlung
       ihrer Feuilletons und Gedichte vor, die zwischen 1929 und 1937 in Zeitungen
       und Zeitschriften veröffentlicht wurden.
       
       Lili Grün wurde 1904 als Tochter einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien
       geboren. Sie verlor früh ihre Eltern, kam in Kontakt mit linken Künstlern
       und ging Ende der zwanziger Jahre nach Berlin, wo sie sich als
       Schauspielerin und Autorin versuchte. Sie wurde Mitglied der
       Kabarett-Gruppe „Die Brücke“, musste ihren Lebensunterhalt aber als
       Verkäuferin in einer Konditorei bestreiten.
       
       Dieses Leben zwischen großen Träumen und trüber Maloche spiegelt sich in
       vielen Texten wider: „Wenn ich auch nichts von den Dingen versteh’, / Eins
       weiß ich genau: / Es gibt ein eigenes Paradies für die Frau. / Für uns, die
       wir den ganzen Tag dienen. / In dunklen Büros bei den Schreibmaschinen“,
       beginnt das titelgebende Gedicht „Mädchenhimmel“.
       
       ## Emanzipation und Bindung
       
       Grüns andere große Thema sind die Frauen, die Männer, und das, was sie sich
       voneinander erhoffen, aber allenfalls nur kurzzeiti geben können: die
       Liebe. Sie beschreibt die kurzen Momente des Glücks, quälende Hoffnungen
       und viele kleine Enttäuschungen. Etwa, wenn sich der Mann mal wieder nicht
       auf die Frau einlässt und lieber Zeitung liest: „Da kann man wirklich nur
       weinen, ins andere Zimmer gehen und unverstanden sein.“
       
       Getrieben von der Sehnsucht – und womöglich von der Furcht vor Langeweile,
       ein häufiges Motiv bei Lili Grün – sind diese Frauen selbstbewusst genug,
       um eine unglückliche Beziehung zu beenden: „Denn bis zum Tode bin ich dein,
       / Und noch im Grabe lieb’ ich dich, / Doch wenn schon einmal Schluß muß
       sein: / Den, Liebling, mache ich!“
       
       Emanzipation und Wunsch nach Bindung gehören zusammen, vielleicht besteht
       genau darin das Schlamassel, und ertragen lässt sich dieser Widerspruch nur
       mit Humor: „Mein letzter Freund war ein Jurist. / Ich bin seit dieser Zeit
       gegen Juristen.“ Doch freilich folgt auf jedes Ende ein neuer Anfang, stets
       in der Hoffnung, der Nächste möge der Richtige sein. Ein Mann müsse doch,
       schreibt sie an anderer Stelle, „nebst Verstand und anderen Gaben, / So
       etwas wie eine Seele haben. / Und ich bin so scharf auf Seele!“
       
       Ein weiteres Gedicht, in dem sie ausführt, dass ein Mann „wird selbst nach
       langen Jahren / Fast jeder Frau eine Erinnerung bewahren“, hingegen „das
       Herz der Frauen“ ohne Gedächtnis sei und für den jeweils Neuen alle
       Vergangenheit zu vergessen bereit sei, endet mit der Pointe: „Sie ist ja so
       gern monogam, / Wenn man – sie läßt!“
       
       ## Im Berlin von heute
       
       Es sind präzise und gefühlvolle Beschreibungen des Großstadtlebens,
       humorvoll und selbstironisch erzählt, leicht melancholisch, ziemlich keck
       und sehr berührend. Ein Werk der Neuen Sachlichkeit, kühler als Mascha
       Kaléko, fröhlicher als Marieluise Fleißer, nah an [2][Irmgard Keun] und
       zuweilen – so im hinreißenden „Dialog mit Reflexionen“ – auch an Kurt
       Tucholsky.
       
       Doch sieht man von der fehlenden expliziten Darstellung von Sexualität ab,
       könnte man Grüns Texte für zeitgenössische halten, die etwa an die
       taz-Kolumnistinnen [3][Margarete Stokowski] oder [4][Franziska Seyboldt]
       erinnern. So kann man sich Lili Grün gut im Berlin, Hamburg oder Wien der
       Gegenwart vorstellen; als junge Frau, die „was mit Medien macht“ und ihr
       Liebesglück sucht, in beidem mal mehr, mal weniger erfolgreich ist, und
       nicht nur für sich spricht, wenn sie darüber schreibt. Wären da nicht
       solche Sätze, die man heute nicht losgelöst vom Schicksal der Autorin lesen
       kann: „In den größten Schmerzen unseres Lebens sind wir allein.“
       
       1933 kehrte Grün, inzwischen an Tuberkulose erkrankt, nach Wien zurück, wo
       sie nach dem Erscheinen ihrer Romane von ihrer Literatur leben konnte. Nach
       dem „Anschluss“ Österreichs verfolgt und schwer erkrankt, wurde sie, nach
       allem, was ihre Herausgeberin in Erfahrung bringen konnte, mehrfach
       „delogiert“ und lebte zuletzt in einem „Massenquartier“ für Juden im 1.
       Wiener Bezirk. Im Mai 1942 wurde Lili Grün ins Vernichtungslager Maly
       Trostinez in Weißrussland deportiert und am Tag ihrer Ankunft ermordet. Sie
       war 38 Jahre alt.
       
       10 Jan 2015
       
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