# taz.de -- Roman von Ror Wolf: Das Auffangen zugeworfener Nüsse
       
       > Ror Wolf ergänzt seine „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“: „Raoul
       > Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben“ ist prächtig.
       
 (IMG) Bild: Ror Wolf in seiner Mainzer Wohnung.
       
       Ror Wolfs Texte scheinen oft von einem Außerirdischen geschrieben. Einem,
       der ohne nähere Kenntnis dessen, was ihn dort erwarten würde, eines Tags
       auf die Erde gefallen ist und dann, wo er schon einmal da war, begann,
       seine Beobachtungen zu protokollieren. Die alltäglichsten Vorgänge wie
       Hören oder Liegen verlieren aus dem Blickwinkel, den Wolf wählt, ihre
       Selbstverständlichkeit, werden fremd, befremdlich, beunruhigend oder
       hochkomisch.
       
       Eine besondere Form der abwegigen Vollendung hat Ror Wolf mit seiner
       „Enzyklopädie für unerschrockene Leser“ gefunden. Deren Protagonist Raoul
       Tranchirer wendet sich an sein Publikum mit Büchern, alphabetisch nach
       Stichworten geordnet und mit Titeln versehen wie „Raoul Tranchirers
       vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt“, „Raoul
       Tranchirers Mitteilungen an Ratlose“ oder „Raoul Tranchirers Bemerkungen
       über die Stille“. Jetzt ist mit „Raoul Tranchirers Notizen aus dem
       zerschnetzelten Leben“ eine Art Ergänzungsband erschienen.
       
       Es ist ein besonders prächtiger Beitrag zu dieser Enzyklopädie, die sich
       der klassischen Ratgeberliteratur in ironisch-subversiver Absicht nähert.
       Auf großformatigen Seiten nimmt sich Wolf die unterschiedlichsten Aspekte
       der Welt von „Abbildung“ bis „Zusammensinken“ vor. Thematisch, das mag mit
       der im Titel suggerierten Perspektive des „zerschnetzelten Lebens“ zu tun
       haben, finden sich diesmal erstaunlich viele Beschreibungen von
       unterschiedlichen Arten der Nahrungsaufnahme unter den „Notizen“.
       
       Etwa der Eintrag „Gefräßigkeit“, der mit den Worten beginnt: „Die große
       Gefräßigkeit der Fliegen und Mücken ist bekannt, auch die Gefräßigkeit der
       Raupen. Sie fraßen in kurzer Zeit diesen Wald, durch den wir gingen, auf.
       Der Wald verschwand langsam im kauenden Mund dieser Tiere, er verschwand,
       deshalb gingen wir nun durch eine kahle steppenähnliche Landschaft, alles
       kahl, sagte ich und ging nun in einem waldlosen Land dahin, wo die
       Grasraupen riesige Wiesen abfraßen, so daß sie wie abgemäht dalagen.“
       
       ## Seltsame Phänomenologie
       
       Häufig ist auch die Rede von Tieren, die Menschen mit ihren Nagezähnen
       anfallen oder anderweitig in menschliche Körper einzudringen versuchen. Der
       Körper ist für Raoul Tranchirer nicht nur Gegenstand der Wahrnehmung, er
       wirkt auch stets bedroht. Dabei fällt auf, dass der ironische Lexikonstil,
       den Wolf in vorangegangenen Bänden gern gewählt hat, zunehmend einer
       Ich-Erzählung weicht, einer Art seltsamen Phänomenologie innerer und
       äußerer Vorgänge.
       
       Nicht, dass es ähnliche „Lexikonartikel“ Raoul Tranchirers nicht schon
       vorher gegeben hätte: Man kann am ehesten von einer Verschiebung sprechen,
       die den Abstand zwischen der Prosa Tranchirers und dem übrigen Schaffen Ror
       Wolfs weiter verringert – manche Passagen wären auch in seinem Roman „Die
       Vorzüge der Dunkelheit“ nicht sonderlich aufgefallen.
       
       „Raoul Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben“ präsentiert Ror
       Wolf zudem ausgiebig als bildenden Künstler. So weisen einige Buchstaben
       gerade mal einen einzigen Artikel auf – „I“ zum Beispiel beschränkt sich
       auf das Stichwort „Ich“ -, sind dafür aber großzügig farbig bebildert mit
       Wolfs surrealistischen Collagen aus Zeitschriften und Nachschlagewerken der
       Gründerzeit. Der aufwendige Farbdruck ist neben der bibliophilen
       Ausstattung denn wohl auch einer der Hauptgründe für den nicht eben
       günstigen Kaufpreis des Buchs.
       
       Ansonsten wird man immer wieder reichlich belohnt mit vermeintlichen
       Antireflexionen, die den genau gegenteiligen Effekt dessen erzielen, was
       sie zu beabsichtigen vorgeben. Besonders schön in „Klomms Erzählungen“:
       „Klomms Erzählungen bewegten sich freilich nur auf der üblichen Ebene, sie
       beschränkten sich auf die gewöhnlichen Dinge, etwa das An- und Auskleiden,
       das Hutabnehmen, das Grüßen, Schaukeln und Seiltanzen, das Auffangen
       zugeworfener Nüsse, nichts also, worüber man nachdenken müsste. Und worüber
       man nicht nachdenken muß, muß man nicht schreiben.“
       
       11 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
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