# taz.de -- Debatte „Je suis Charlie“: Nein, wir sind nicht „Charlie Hebdo“...
       
       > … und genau das ist das Problem. Ein Vorschlag zur tatsächlichen
       > Meinungsfreiheit, während die Selbstzensur um sich greift.
       
 (IMG) Bild: Seit dem Attentat solidarisieren sich Millionen von Menschen mit dem Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“
       
       Der tragische Terroranschlag auf das französische Satiremagazin Charlie
       Hebdo ist in vieler Hinsicht beängstigend. Wie nach der Ermordung des
       niederländischen Filmemachers Theo van Gogh 2004 oder nach dem 11.
       September nutzen Politiker die Anschläge von Paris erneut, um sich mit
       ihrer perfekten Demokratie und freien Gesellschaft zu brüsten und zu
       betonen, dass der Terror natürlich nichts mit dem Islam zu tun habe,
       sondern nur mit kranken Individuen, die die Religion als Entschuldigung für
       ihre extremen Ideen instrumentalisieren.
       
       Bürger posten in den sozialen Medien Solidaritätsbekundungen mit Charlie
       Hebdo, bevor sie sich von einem Video mit einem Wasserski fahrenden
       Eichhörnchen oder einer Klavier spielenden Katze ablenken lassen. Auf diese
       Weise werden auch sie zum Opfer des Tages.
       
       Facebook und Twitter quellen über mit Statements wie „Je suis Charlie“ (Ich
       bin Charlie) und „Wir alle sind Charlie“. Nein, leider sind wir das nicht.
       Von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen, sind wir nicht Charlie. Genau das
       ist das Problem. Lassen Sie mich drei Gründe nennen, warum die meisten von
       uns nicht Charlie sind.
       
       ## hat alle Religionen und alle Politiker kritisiert
       
       Erstens sind die meisten Verteidiger von Charlie Hebdo sehr neue und
       selektive Fans dieses Satiremagazins. Es ist erstaunlich, wie viele
       islamophobe und rechtsextreme Leute jetzt ihre Liebe zu einem Magazin
       erklären, das sie vor Kurzem noch für ein kommunistisches Drecksblatt
       hielten (etwa nach dem beißenden Spott, das es über ihre Helden ausgoss:
       von Christus bis zu Marine Le Pen.) Wie zum Beispiel der heldenhafte
       Verteidiger der Meinungsfreiheit Geert Wilders, der den Koran verbieten
       lassen will, weil dieser zur Gewalt aufrufe.
       
       Die meisten Leute sind nicht Charlie, weil Charlie Hebdo alle Religionen
       und alle Politiker kritisiert hat, unabhängig von Ethnie, Geschlecht oder
       Ideologie. Daher wurde Charlie Hebdo auch von allen Politikern und Parteien
       kritisiert, wenngleich nur von Radikalislamisten tätlich angegriffen.
       Dieses Faktum darf nicht unter den Tisch fallen.
       
       Das bedeutet nicht, dass nur Radikalislamisten ihre Kritiker angreifen;
       erst kürzlich wurden zwei französische Mitglieder der Jewish Defense League
       verurteilt, weil sie eine Bombe am Auto eines antizionistischen
       Journalisten angebracht hatten. Trotzdem bleibt die unbequeme Wahrheit,
       dass die Mehrheit der Anschläge derzeit auf Islamisten zurückgeht. Das ist
       nicht die Schuld des Islams, denn 99,9 Prozent aller Muslime sind
       friedlich; trotzdem spielt der Islam eine Rolle.
       
       Zweitens sind viele nicht Charlie, weil sie denken, dass demokratische
       Debatten „zivilisiert geführt werden und niemanden ärgern sollten“. Das
       Problem ist, dass „Zivilisiertheit“ ein glitschiges Terrain ist, das Leuten
       sehr Unterschiedliches bedeutet. Menschen können sich über alles Mögliche
       aufregen, warum sollte religiöse Empfindlichkeit besonderen Schutz
       genießen? Wer sagt überhaupt, dass Charlie Hebdos Kritik am Islam(ismus)
       religiöse Muslime mehr aufregt, als die Kritik an einem Fußballverein
       dessen beinharten Fan verletzt?
       
       ## Selbstzensur wird mehr und mehr zur Norm
       
       Zudem wurde Zivilisiertheit stets entlang der Interessen des politischen
       Establishments definiert. Daher wird dieses Argument so gut wie immer
       opportunistisch und selektiv verwendet. Bestimmte Gruppen werden vor
       unzivilisierten Diskussionen geschützt, andere nicht. Das verletzt auf
       lange Sicht nicht nur die Kritiker, sondern auch die Unkritisierten.
       Immerhin hält man sich die Möglichkeit vor, über sich nachzudenken und
       etwas dazuzulernen.
       
       Drittens sind viele nicht Charlie, weil sie Angst haben. Sehr viele würden
       niemals öffentliche Kritik wagen, zumindest nicht an relativ mächtigen
       Personen. Aber selbst unter professionellen Kritikern wie Comedians oder
       Intellektuellen wird Selbstzensur mehr und mehr zur Norm. Viele behandeln
       Juden und Israel vorsichtiger als andere Gruppen und Staaten, weil sie
       Angst vor Sanktionen haben. Genauso besorgniserregend ist die größer
       werdende Gruppe an Komikern, Satirikern und Intellektuellen, die sich in
       Sachen Muslime und Islam selbst zensieren.
       
       Schon vor einigen Jahren sagten mir niederländische Intellektuelle im
       Vertrauen, dass sie aufgehört hätten, den Islam(ismus) zu kritisieren, aus
       Angst um sich und ihre Familien. Selbst ein „furchtloser“ Satiriker wie
       Stephen Colbert zeigt in seiner Fernsehshow keine Mohammedkarikaturen oder
       andere Bilder, die Muslime angreifen. Zwar macht er sich über seine Angst
       lustig, zensiert sich am Ende jedoch ebenso selbst.
       
       Und wenn mutige Seelen es doch wagen, den Islam(ismus) satirisch zu
       behandeln, werden sie häufig von ihren Arbeitgebern zurückgepfiffen –
       „South Parks“ Mohammedepisode etwa wurde unzählige Male vom Sender Comedy
       Central zensiert!
       
       ## Bequem und politisch opportun
       
       Selbstverständlich gibt es strukturelle Erklärungen für das hohe Niveau an
       Ärger und Frustration der radikalen Muslime in Europa genauso wie für die
       Tatsache, dass einige mit Gewalt drohen oder gewalttätig werden. Niemand
       kann gewalttätige Handlungen in Demokratien entschuldigen. Trotzdem können
       wir etwas aus ihnen lernen.
       
       Es ist bequem und politisch opportun zu behaupten, dass „wir“ „angegriffen“
       wurden, weil „die“ mit „unserer Freiheit“, besonders mit der
       Meinungsfreiheit, nicht umgehen können. Politiker predigen, „dass Muslime
       damit klarkommen müssen“, dass sie „nun in einer Gesellschaft leben, in der
       alles kritisiert werden kann“. Sie verweisen auf Kritik an Christen und am
       Christentum (gerne auch aus den 1960ern und 1970ern). Das ist bestenfalls
       naiv, schlimmstenfalls unaufrichtig.
       
       Denn häufig wird „akzeptable“ Kritik an Islam und Muslimen als inakzeptabel
       und illegal (!) erachtet. Ersetzen Sie einfach „Muslime“ durch „Juden“ oder
       „Schwarze“, und überlegen Sie, wann Sie die Kritik für angebracht halten.
       Viele Muslime halten die Meinungsfreiheit auch nur für eine faule Ausrede.
       Das hängt mit der Wahrnehmung von europäischen Muslimen als machtlos
       zusammen.
       
       Einige finden, dass Muslime diskriminiert werden, weil sie im politischen
       System keinen Repräsentanten haben. Gelegentlich weisen sie auch auf Juden
       und deren Erfolg hin, antisemitische Äußerungen effektiver unterdrücken zu
       lassen. Und finden, dass Muslime von der Sympathie nichtmuslimischer Eliten
       abhängen, die in ihrer Unterstützung weitgehend willkürlich sind (auch die
       der Linken).
       
       ## Sie sind wir
       
       Es sei wiederholt, dass keine dieser Erklärungen die Gewalt rechtfertigen
       kann. Trotzdem haben sie eine faktischen Grundlage.
       
       Wenn „wir“ von „ihnen“ erwarten, dass sie die Meinungsfreiheit
       respektieren, dann muss diese entweder total gelten, oder alle
       Bevölkerungsgruppen müssen gleich geschützt werden (was nicht möglich ist).
       
       Wenn „wir“ von „ihnen“ wollen, dass sie demokratische Regeln akzeptieren,
       dann müssen wir „sie“ auch als gleichwertige Bürger akzeptieren. Allzu oft
       werden der Islam oder Muslime als fremd behandelt und in Verbindung mit
       Migration oder fremden Ländern und Regionen gebracht. Aber die Mehrheit der
       Muslime in europäischen Ländern wurde in Europa geboren und sozialisiert.
       Mit anderen Worten: Sie sind wir. Ebenso, wie sie damit klarkommen müssen,
       in „unserem Land“ zu leben, müssen wir damit klarkommen, dass es auch „ihr“
       Land ist.
       
       Wie also machen wir auf produktive Weise weiter, wie stärken wir unsere
       Demokratien, anstatt sie mit autoritären, reflexhaften Reaktionen zu
       schwächen? Anstatt die Meinungsfreiheit einzuschränken, indem wir die
       „zivilisierte“ Rede einschränken oder indem wir die
       Antidiskriminierungsgesetze ausweiten, sollten wir unseren Slogans gerecht
       werden und die Meinungsfreiheit für alle tatsächlich leben – sie gilt auch
       für Antisemiten und Islamhasser.
       
       Wir sollten alle kritisieren und uns über alle lustig machen, von Atheisten
       bis zu Christen, von Juden bis zu Muslimen, von den Grünen bis zu den
       Rechtsradikalen. Das erfordert nicht nur, dass wir uns gegen Extremisten
       aussprechen, sondern auch, dass wir die verteidigen, die diese angreifen –
       und zwar, bevor sie bedroht oder umgebracht werden.
       
       Der Text erschien zunächst im Webmagazin openDemocracy. Übersetzung aus dem
       Englischen: Ines Kappert
       
       11 Jan 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cas Mudde
       
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