# taz.de -- Psychologin über Blutrache: „Eine grandios-narzisstische Geste“
       
       > Womit wird die Selbstjustiz gerechtfertigt? Die Direktorin des
       > Sigmund-Freud-Instituts über Gerechtigkeit und kollektive Kränkungen.
       
 (IMG) Bild: In Afghanistan zeigt sich die Wut von Demonstranten gegen „Charlie Hebdo“.
       
       taz: Frau Prof. Dr. Leuzinger-Bohleber, kann Blutrache ein Mittel zur
       Herstellung von Gerechtigkeit sein? 
       
       Marianne Leuzinger-Bohleber: Ich denke, es ist eine mühsam errungene
       Kulturleistung, dass auf Rache als Mittel zur „Herstellung von
       Gerechtigkeit“ verzichtet wird. Rache erinnert eher an Mafiamethoden oder
       an eine kulturelle Regression in archaische Zeiten.
       
       Dennoch lassen sich Rachegelüste im Alltag nicht immer vermeiden. 
       
       Wir alle kennen Rachegelüste, wenn wir Ungerechtigkeit erfahren – doch sind
       dies erste Gefühlsreaktionen, die wir innerlich zwar durchaus spüren
       können, aber gleichzeitig auch kontrollieren und nicht in konkrete
       Handlungen umsetzen sollten.
       
       Würden Sie im Fall Charlie Hebdo von einem religiös motivierten Racheakt
       sprechen? 
       
       Da muss man vorsichtig sein. Was man in jedem Fall sagen kann, ist, dass es
       seit Jahrhunderten in den meisten, besonders den westlichen Gesellschaften
       durch allgemein gültige Gesetze verboten ist, aus Rache zu morden. Die
       islamistischen Terroristen akzeptieren diese rechtsstaatlichen Gesetze
       nicht, sondern beziehen sich auf eine andere Rechtsauffassung, die sie dem
       Islam zuschreiben.
       
       Nehmen wir an, das Motiv der Mörder, den Propheten zu rächen, war nur ein
       Vorwand. Welche Gründe für die Attentate ließen sich aus einer
       psychologischen Perspektive anführen? 
       
       Psychoanalytisch gesehen handelt es sich dabei – leider – um seelisch recht
       primitive Mechanismen: die eigene Grandiosität wird zum allein gültigen
       Maßstab für das persönliche Handeln: Statt sich einer gemeinsamen
       Rechtsordnung verpflichtet zu fühlen, wird diese in einer
       grandios-narzisstischen Geste negiert und eigene, primitive Racheimpulse
       hemmungslos in Taten umgesetzt. Verbunden damit ist ein Zurückfallen auf
       archaische seelische Funktionsweisen, die geprägt sind von
       Spaltungsprozessen zwischen gut und böse, richtig und falsch, rein und
       schmutzig oder heilig und verrucht. Dem Eigenen wird das Gute zugeschrieben
       – dem „Feind“ das Böse, das daraufhin vernichtet werden darf
       beziehungsweise in der subjektiven Meinung der Täter sogar vernichtet
       werden muss.
       
       Ein anderer Erklärungsversuch dieser Art von Selbstjustiz wäre die
       schlechte sozioökonomische Lage der Attentäter in Frankreich und damit
       einhergehender sozialer Frust. 
       
       Die prekäre ökonomische Lage ist sicher ein wichtiger Faktor, aber bei
       Weitem nicht der einzige: Nicht jeder Arme ist zu solchen brutalen
       Terrorakten in der Lage wie die Attentäter von Paris. Terror ist das
       Produkt von vielen verschiedenen Faktoren: persönlichen, institutionellen
       und gesellschaftlichen.
       
       Die Attentate stießen nicht überall auf Unverständnis, sondern wurden als
       verhältnismäßig wahrgenommen. Könnten die Kriege des sogenannten Westens in
       der muslimischen Welt und die Dämonisierung des Islams
       kollektivpsychologische Ursachen dafür sein? 
       
       Ja, so gab es zum Beispiel in Tschetschenien Demonstrationen gegen Charlie
       Hebdo, in denen muslimische Gläubige die Karikaturisten beschuldigten, den
       Propheten und damit gläubige Muslims beleidigt zu haben. Dadurch trügen sie
       eine Mitschuld an ihrer Ermordung. Bei diesen Demonstranten spielen
       vermutlich die kollektiven Kränkungen durch die „Kriege des sogenannten
       Westens“ gegen Irak oder islamistische Terrorgruppen wie die IS durchaus
       eine Rolle.
       
       Für die jugendlichen Attentäter in Paris ist anzunehmen, dass sie zudem
       durch eine tiefe Enttäuschung an westlichen Werten wie „Freiheit,
       Gleichheit, Brüderlichkeit“ geprägt waren: Für Jugendliche, die in den
       Banlieues aufwachsen, wirken diese Ideale der Französischen Revolution oft
       wie Häme: zu offensichtlich ist für sie, dass sie nicht die gleichen
       Zukunftschancen haben wie Jugendliche aus der französischen Mittel- und
       Oberschicht. Zudem haben die Bilder von Folterungen in Guantánamo oder an
       irakischen Kriegsgefangenen durch Amerikaner vermutlich zu einer extremen
       Desillusionierung bezüglich westlicher Demokratien beigetragen.
       
       Der Islam als Religion steht oft in der Kritik – zu einseitig? 
       
       Ja. Alle Religionen können dazu benutzt werden, die eigene Verantwortung an
       eine „göttliche Instanz“ zu delegieren und sie zur Legitimation der eben
       beschriebenen Spaltung zwischen „gut“ und „böse“, „Heiligen“ und „Teufeln“,
       „Himmel“ und „Hölle“ zu missbrauchen. Dies war zum Beispiel im Mittelalter
       bei Christen zu beobachten, die die heilige Maria verehrten, „Hexen“
       verbrannten. Im sogenannten Heiligen Krieg der islamistischen Terroristen
       herrscht ein ähnlich archaisches Weltbild vor.
       
       Womit hängt das zusammen? 
       
       Mit genuin religiösen Motiven hat dies wenig zu tun – eher mit dem
       Missbrauch von Religion für eigene Zwecke.
       
       Würden Sie von einer Marginalisierung oder fehlenden Anerkennung von
       Muslimen in der deutschen und französischen Gesellschaft sprechen? 
       
       Es geht eher um soziale Spaltungen. Feindbilder treffen nicht nur die
       Muslime: bekanntlich hat auch der Antisemitismus in Frankreich in
       erschreckender Weise zugenommen. Für eine umfassende Analyse müsste das
       Ineinanderwirken von komplexen ökonomischen, psychologischen und
       gesellschaftlichen Faktoren berücksichtigt werden.
       
       Doch fördern manche Faktoren eindeutig die Zunahme von fundamentalistischen
       und terroristischen Einstellungen und Handlungen: hohe
       Jugendarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, das Gefühl, nicht in der
       Gesellschaft angekommen und akzeptiert zu sein – aber natürlich auch
       Persönlichkeitsfaktoren, wie emotionale Frühverwahrlosung oder extreme
       Gewaltbereitschaft zum Beispiel bei sogenannten
       Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Zudem ist sicher richtig, wenn darauf
       hingewiesen wird, dass besonders arbeitslose, benachteiligte Jugendliche
       für eine fundamentalistische Radikalisierung anfällig sind sowie dass
       Rückkehrer aus Syrien oder dem Irak gelernt haben, brutal zu töten und
       jegliche Tötungshemmung außer Kraft zu setzen.
       
       In „Die Zukunft einer Illusion“ schrieb Sigmund Freud 1927, dass religiöse
       Praktiken neurotischen Zwangshandlungen gleichen. Könnten Sie das
       erläutern? 
       
       Freud dachte bei diesen Thesen an eine psychoanalytische Grunderkenntnis –
       nämlich, dass sich die seelische Entwicklung bei allen Menschen von relativ
       primitiven archaischen Zuständen und Mechanismen hin zu differenzierteren
       entwickelt. Wir verlieren nie die Möglichkeit, in Stress- und
       Überforderungssituationen auf seelische Funktionsweisen zurückzufallen, die
       jenen von Kleinkindern entsprechen. Dazu gehören die erwähnten primitiven
       Abwehrmechanismen wie Spaltung, Projektion, Verneinung und Verleugnung. In
       fundamentalistischen Religionen sah Freud in der Tat die Möglichkeit, auf
       Gott das „Gute“, „Reine“, „Gerechte“, „Ideale“ zu projizieren – auf den
       Teufel („den Verräter“) die abgewehrten eigenen negativen Impulse, das
       „Böse“, „Unreine“, „Verwerfliche“ etc.
       
       Hat sich Freud für die Ersetzung der Religion durch die wissenschaftlich
       fundierte Vernunft ausgesprochen? 
       
       Freud war ein Kulturpessimist. Er sprach zum Beispiel von der „leisen
       Stimme der Vernunft“, sah allerdings in ihr die einzige Möglichkeit, in
       einer Demokratie der Gefahr der eben erwähnten Regressionen auf primitive
       seelische Zustände, Hass und Gewalt entgegenzuwirken. Nachdem er die
       Gräueltaten des Ersten Weltkrieges miterlebt hatte, war er sich aber sehr
       bewusst, dass kultureller Fortschritt stets bedroht und Barbarei jederzeit
       möglich ist.
       
       7 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johannes Pitsch
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Religion
 (DIR) Psychoanalyse
 (DIR) Sigmund Freud
 (DIR) Terrorismus
 (DIR) Charlie Hebdo
 (DIR) Rache
 (DIR) Selbstjustiz
 (DIR) Psychoanalyse
 (DIR) Terrorismus
 (DIR) Charlie Hebdo
 (DIR) Studie
 (DIR) Dschihad
 (DIR) Charlie Hebdo
 (DIR) Charlie Hebdo
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Therapie im Selbstexperiment: „Ich mach mich doch nicht zum Obst!“
       
       Eine Familie kommt zusammen, um nach Jahren der Abstinenz wieder ‚„Therapy“
       zu spielen. Früher gab das regelmäßig Streit. Dabei sind die Eltern
       AnalytikerInnen.
       
 (DIR) Blick in die Psyche der Terroristen: „Ein grausames Über-Ich“
       
       Was bringt Selbstmordattentäter dazu, ihr Leben zu geben um Terror zu
       verbreiten? Psychoanalytiker Klaus Grabska befasst sich mit der Innenwelt
       von Attentätern.
       
 (DIR) Migrantenviertel in Paris: Bloß nicht hinsehen
       
       Das Pariser Einwandererquartier La Goutte d’Or ist von „Fox News“ zur
       „No-go-Area“ für Nichtmuslime erklärt worden. Was ist da dran? Ein Besuch.
       
 (DIR) Judenfeindlichkeit in Deutschland: Antisemitismusforschung ohne Juden
       
       Jüdische Forscher lehnen den offiziellen „Expertenkreis“ der
       Bundesregierung ab. Sie planen eine alternative Kommission und üben Kritik
       an einer Studie.
       
 (DIR) Diskussion in Berlin zu Pariser Anschlägen: Distanzeritis vom Dschihad
       
       Blasphemische Karikaturen? Ganz normale Muslime? Interessante Thesen gab es
       bei einem Panel um die Pariser Anschläge, nur keinen Schlagabtausch.
       
 (DIR) Radikalisierung im Gefängnis: „Prävention muss verstärkt werden“
       
       Die Attentäter von Paris hatten sich in der Haft kennengelernt.
       Sozialpädagoge Thomas Mücke über Ideologien, Gewaltkreisläufe und
       Vertrauensbildung.
       
 (DIR) Türkischer Religionsvertreter in Köln: Anwalt des Propheten
       
       Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion wirkt eher im
       Hintergrund. Nun freut sich ihr Vorsitzender über den Rückzug eines
       Karnevalswagens.
       
 (DIR) Polizistenmord in New York: Selbstjustiz mit Publikum
       
       Der Täter, der die Beamten in Bedford-Stuyvesant getötet hat, soll kurz vor
       den Schüssen Passanten zum Zuschauen aufgefordert haben.
       
 (DIR) Selbstjustiz in Berlin: Kreuzberg sieht rot
       
       Die lebensgefährliche Attacke am Görlitzer Bahnhof hat eine Vorgeschichte.
       Ein Barbesitzer rief 70-mal die Polizei gegen Dealer zur Hilfe.