# taz.de -- Kolumne Unter Schmerzen: Gebrechen und Strafe
       
       > Vom Fleischer, der weder Holzfäller noch Frisör sein wollte, sondern
       > einfach nur gar nicht arbeiten. So häuften sich die Arbeitsunfälle.
       
 (IMG) Bild: Auch Ärzte haben ihre Grenzen.
       
       Die Cousins meines Vaters hatten sich für die Fleischerei entschieden. Der
       Ältere schaffte es nach den Lehr- und Meisterjahren auf einen Bürostuhl in
       der Geschäftsleistung. Der Jüngere, den mein Vater am Telefon als „komisch
       Kerlchen“ beschrieb, blieb jedoch all die Jahre im Schlachthaus und fügte
       sich Wunden zu.
       
       Arbeitsunfälle, die zum Leben eines Fleischers wohl dazugehören. Nur dass
       er dabei eifrig über das Maß hinausging und sich auch keinesfalls an die
       Sicherheitsvorschriften hielt, die irgendwas von Handschuhen und schneller
       Desinfektion respektive umgehender Behandlung erzählen.
       
       Er blutete also erst mal alles voll. Und züchtete sich im Laufe der Zeit
       eine ordentliche déformation professionnelle heran, so stellte ich mir das
       jedenfalls vor, als mein Vater mir davon berichtete. Ich stellte mir
       offenes, rohes, blutiges Fleisch vor.
       
       Nach einiger Zeit entwickelten sich Geschwülste an seinen Händen.
       Wucherungen. Sie wurden behandelt und operiert. Die Behandlungen
       behinderten seine Arbeit. Es kam immer öfter zu Arbeitsausfallzeiten, die
       mit der Zeit immer länger wurden. Es war fast, als ob der kleine Cousin
       meines Vaters, der übrigens im selben Dorf, nämlich einfach auf der anderen
       Straßenseite aufgewachsen ist, ein später Anhänger des SPKs war – des
       Sozialistischen Patientenkollektivs –, das glaubte, dass Krankheit die im
       Kapitalismus einzig mögliche Lebensform sei (Quelle: Diedrich Diederichsen:
       „Freiheit macht arm“, S. 38). Also Krankheit als Weg oder, um es mit Freud
       zu sagen: Alles auf den sekundären Krankheitsgewinn setzen, weil Arbeit
       halt nervt.
       
       ## Krankheit als Lebensform
       
       Das Sozialistische Patientenkollektiv existierte nur zwei Jahre lang,
       nämlich 1970/71, bevor es aufgelöst wurde. Die Betreiber dieses Kollektivs,
       die an der Uni Heidelberg tätig waren, hatten zu offen mit der RAF
       kooperiert. Einige haben sich dann gleich der RAF angeschlossen, ob krank
       oder nicht. Wobei es beim Patientenkollektiv, das nicht klassisch
       medizinkritisch, sondern eher institutionsfeindlich (gegen Ärzte, die
       Büttel des Systems! usw.) ausgerichtet war, eher um geistige Behinderungen
       ging als um, äh, Irrwege der Psychosomatik.
       
       Aber gut. Das führt jetzt auch alles zu weit. Denn der Cousin meines
       Vaters, sprich mein Großcousin, ist höchstwahrscheinlich weit weniger in
       den politischen Obskuritäten der siebziger Jahre bewandert. Bei ihm
       schaltete sich einfach Pragmatik mit Arbeitsverweigerung kurz.
       
       Das Erstaunliche daran ist auch eher die Drastik: Der Mann fügte sich
       Schnittwunden zu, weil er nicht länger als Fleischer arbeiten wollte! Und
       es war auch nicht so, dass er stattdessen lieber ein Holzfäller gewesen
       wäre! Oder ein Friseur. Oder ein Meinungsredakteur. Oder ein Politaktivist.
       Nein, er wollte einfach nur lieber gar nicht arbeiten.
       
       Seine Methode führte dann auch tatsächlich zum Erfolg. Als er endlich die
       Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in den Händen hielt, war er Mitte 30 und
       glücklich. Aber jedes Glück ist ein per se flüchtiges, und das Leben spielt
       meist anders. Kurz darauf entwickelte sein Körper nämlich einen Morbus
       Bechterew.
       
       12 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rene Hamann
       
       ## TAGS
       
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