# taz.de -- Singen hinter Gittern: Trotz‘ dem alten Drachen
       
       > Der Chor in der Hamburger Untersuchungs- haftanstalt ist die Stütze des
       > Gottesdienstes, er ist ein Ort der Heiterkeit und eine Flucht aus einem
       > Alltag, der die Männer an ihre Grenzen bringt
       
 (IMG) Bild: Musik sei eine flüchtige Kunst, sagt Chorleiter Yotin Tiewtrakul, und das wohl erst recht in der Untersuchungshaftanstalt.
       
       HAMBURG taz | Es dauert, bis die Männer in den Bankreihen leise werden. Es
       dauert eine ganze Weile. Es ist Sonntagnachmittag, der Chor steht vorne
       beim Flügel, Hallelujah von Leonard Cohen werden sie singen, von der
       Sehnsucht nach einer Frau und dass es schief gegangen ist. Die Männer hier
       kennen beides, wie sollten sie nicht: Sie sind Untersuchungshäftlinge.
       
       Die Kirchentür in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis in Hamburg
       muss man suchen. Es geht durch lange Flure mit dunklen Holzschnitzereien,
       durch ein Treppenhaus, dessen Öffnungen mit Drahtgittern abgesichert ist,
       vorbei an einer blinkenden Messingglocke – nein, sie ist nicht für
       erfreuliche Anlässe gedacht, sagt der Vollzugsbeamte –, vorbei an einem
       Glasverschlag, in dem seine Kollegen Dienst tun. Rechts davon ist eine
       schwere graue Stahltür. „Kirche“ steht in schwarzen Blockbuchstaben darauf.
       
       Es ist eine sehr sachliche Tür und zugleich vermittelt sie eine gewisse
       Wichtigkeit, zumindest wenn man annimmt, dass „Kirche“ dort steht, weil
       Leute danach suchen, weil sie dringend dorthin wollen. Aber das ist wieder
       eine dieser Verklärungen von außen: In der Justizvollzugsanstalt läuft
       niemand lange alleine herum. Und zur Frage der Dringlichkeit ist später
       noch etwas zu sagen.
       
       Die graue Kirchentür öffnet sich zu einem großen Saal, turnhallengroß ist
       er, mit einem graublauen Teppich, der zum Altar führt und einer hohen
       rot-goldenen Wand dahinter. Es ist ein festlicher Raum, selbst die Gitter
       hinter den hohen Fenstern sind so unauffällig hinter den Sprossen, dass sie
       nicht direkt „Gefängnis, Gefängnis“ rufen. Man muss einen Antrag stellen,
       um den Gottesdienst am Sonntagmittag besuchen zu dürfen und man muss einen
       Antrag stellen, um Mitglied im Gefängnischor werden zu dürfen. Derzeit sind
       acht Männer dabei, vier Plätze sind noch frei.
       
       „Ist Herr Schmieder* da?“, fragt er Gunhild Warning, die Pastorin am
       Untersuchungsgefängnis. Warning, eine energische,blonde, schmale Frau,
       sagt: „Er war in der Transportzelle.“ „Oh, schade, er wollte ein Lied
       schreiben“, sagt Yotin Tiewtrakul. Musik sei eine flüchtige Kunst, findet
       er und das stimmt hier auf unvorhersehbare Weise. Wer bei der letzten
       Chorprobe noch dabei war, ist bei der nächsten vielleicht beim Anwalt, im
       Prozess oder in der Vater-Kind-Gruppe. Immer von halb vier bis fünf Uhr am
       Donnerstag ist Probe, heute beginnen sie mit „Jesu, meine Freude“, weil es
       die Pfarrerin im nächsten Gottesdienst singen lassen will.
       
       ## Die Chormänner kommen herüber
       
       Sechs Männer sind gekommen, zwei haben keine Lust, jemandem von der Presse
       zu begegnen. Die meisten tragen Turnschuhe und Freizeitsachen, einer sticht
       heraus, mit Stoffhose, Wollpullover und Brille, man würde sich ihn in einem
       Büro mit Vorzimmerdame oder auf einem Golfplatz vorstellen. Zur Begrüßung
       kommen die Chormänner durch die Bankreihen herüber und geben einem die
       Hand. Dann setzen sie sich in die erste Bankreihe. „Trotz dem alten
       Drachen, trotz dem Todesdrachen, trotz der Furcht dazu“, singen sie.
       „Irgendwie finde ich das total gruselig“, sagt einer im grauen T-Shirt, als
       sie fertig sind. „Es gibt eine bekannte Motette von Bach dazu“, meint Yotin
       Tiewtrakul. „Die kam im Klassikradio“, sagt der Pullover-Mann. „Ich bin
       erst bei NDR 3“, sagt der im T-Shirt.
       
       Tiewtrakul leitet den Chor seit einem halben Jahr. Er ist in Thailand
       geboren, hat in Hamburg Komposition studiert. Er lacht viel und korrigiert
       wenig. „Es geht darum, dass sie überhaupt Lust haben, sich zu äußern.“ Die
       Männer des Gefängnischors halten eine Melodie, sie füllen den großen Raum
       mit ihren Stimmen, aber sie sind nicht der Thomaner-Chor. Tiewtrakul nimmt
       man ab, dass er Freude daran hat, mit ihnen zu singen. Auch wenn sie in
       letzter Zeit während der Probe „viel geschnackt“ haben, wie er sagt und er
       nicht der Mann ist, der dann wie in der Schule jemanden dazwischensetzt.
       
       „Für mich ist ,Jesu meine Freude‘ ein gutes protestantisches Lied“, sagt er
       jetzt zu dem Mann im grauen T-Shirt. „Fragen Sie mal, wer hier ein guter
       Protestant ist“, meint der Mann im Pullover. „Ich“, sagt der, dem es
       graute. Später wird der Mann im Pullover erzählen, dass er als Student im
       Chor gesungen hat, er wird einen fragen, warum man gekommen sei und was man
       hier erfahren wolle, er wird Tiewtrakul, der alle siezt, duzen und ihn
       korrigieren. Er wird sagen, dass die Chorprobe ein Moment sei, wo man nicht
       angeschrien werde. Später wird jemand ein Fragezeichen hinter dieses
       Anschreien setzen und so vage wird es bleiben in der Black Box
       Untersuchungshaftanstalt, die streng genommen eine Zwangsmaßnahme ist und
       kein Gefängnis, da hier noch niemand verurteilt ist.
       
       ## Die Schokoladenseite
       
       Es ist ein Ort, an dem man sehr grundlegend seine Freiheit verliert und
       vermutlich ist es für die am schwierigsten, die gewohnt sind, viel zu
       entscheiden. Es ist ein Ort, an dem man unter Beobachtung steht und wer von
       außen als Besucher kommt, macht sich nur ein vages Bild davon. Dass man
       wartend auf der Straße vor dem Gefängnis steht und plötzlich eine Stimme
       hört, die sagt: „Warum kommen Sie nicht herein, Frau Gräff“ und sich dann
       die Tür des Besuchereingangs automatisch zur Seite schiebt – das ist die
       Schokoladenseite.
       
       „Halt an, halt an“ singen die Chor-Leute als Nächstes. Es ist schwierig,
       hier nicht alles in den symbolischen Hals zu bekommen. „Wo läufst du hin“,
       singen sie weiter. „Der Himmel ist in dir. Suchst du ihn anderswo, du
       fehlst ihn für und für.“ „Fehlst im Sinne von ’verpassen’“, erklärt Yotin
       Tiewtrakul. Einer der Männer übersetzt leise für einen anderen ins
       Spanische. Sie lachen immer mal wieder zwischendrin, wären es nicht große,
       kräftige Männer, würde man sagen, dass sie kichern.
       
       Es hat etwas von einer Chorprobe in der Schule, aber Tiewtrakul trägt an
       seiner Hose angeklemmt ein schwarzes Plastikteil, das ihm die
       Vollzugsbeamten an der Pforte aushändigen. „Ich kann damit Alarm auslösen,
       wenn etwas passieren sollte“, sagt er, aber dieses Etwas scheint ihn nicht
       zu beschäftigen.
       
       Die Chorleute hätten gern Lieder, die mehr mit ihrer Situation zu tun
       hätten, das haben zwei von ihnen zu Tiewtrakul gesagt, als er sie fragte,
       was sie gerne singen würden. Eigentlich müssten sie einen Workshop dazu
       machen, meint er. Es gab sogar schon zwei Männer im Chor, die Lieder
       komponiert haben. Der eine konnte keine Noten aufschreiben, er hat
       Tiewtrakul die Noten vorgesungen, der sie dann für ihn aufgeschrieben hat.
       „Es waren wirklich gelungene Lieder“, sagt Tiewtrakul, er sagt es voller
       Anerkennung. Der zweite hat seine Lieder dem Chor sogar vorgesungen,
       Tiewtrakul hatte den Eindruck, dass sie tatsächlich beeindruckt waren.
       
       Wahrscheinlich macht es gar keinen so großen Unterschied im Wagnis des sich
       Auslieferns, ob man es vor 13-jährigen Mitschülern oder Mithäftlingen tut.
       Ein Häftling kam einmal mit seiner Gitarre zur Probe und hörte plötzlich
       ohne Erklärung mit dem Spielen auf. „Ich hatte Schiss, zu heulen“, sagte er
       hinterher zu Yotin Tiewtrakul.
       
       I‘ll stand before the Lord of song, With nothing on my tongue but
       Hallelujah“, singen die Chorleute auf dem Podest neben dem Flügel.
       
       ## Sie klatschen nicht
       
       Tiewtrakul hat sie darum gebeten, sich am Sonntag zu Beginn zu ihm nach
       vorne zu stellen und hinterher wird er sagen, dass sie vielleicht deshalb
       etwas verhalten waren. Man weiß nie, wie der Gemeinde die Musik in der
       Kirche gefällt, wie auch, da sie nicht klatschen, auch die
       Untersuchungshaft-Gemeinde klatscht nicht. Sie macht aber auch keinen Lärm,
       fast keinen, aber auch das sagt nicht viel, weil Störer irgendwann die
       Besuchsgenehmigung verlieren. „Herr Yetiz*“, sagt die Pastorin während der
       Predigt, „Sie haben zwei Anträge gestellt und ich erwarte, dass Sie sich
       entsprechend verhalten.“
       
       „Weihnachten bebt der Raum“, hat einer der Chorsänger erzählt, „wenn hier
       ’Stille Nacht‘ gesungen wird, alle singen das, auch die Muslime.“ Heute
       bebt der Raum nicht, aber der Chor stemmt die Lieder stellvertretend für
       alle und man denkt an Matthäus und die zwei oder drei, die in Jesu Namen
       versammelt sind, aber das würde der Chor vermutlich von sich weisen, weil
       zu pathetisch.
       
       Nach der Probe gibt es Tee, Kaffee und Kekse. Luxus in einer Haftanstalt.
       So wie der große Raum ein Luxus ist und die Gesprächszeit mit den anderen.
       Das ist bei den Chorproben so, das ist im Gottesdienst so. Rund 80 Leute
       kommen am Sonntag. „Es gibt ein paar, die die Kirche komplett ablehnen,
       aber eigentlich hat sie einen hohen Stellenwert“, sagt der Mann, der „Jesu,
       meine Freude“ nicht mag. Der Mann im Pullover will ihm widersprechen, tut
       es dann doch nicht. Dafür sagt die Pastorin, dass die Kirchenleute als die
       Guten gelten in der JVA, dass man in Betracht ziehen müsse, dass der
       Gottesdienst auch eine Stunde mehr Aufschlusszeit bedeute. „Wir sind
       user-friendly“, sagt Tiewtrakul.
       
       Er sagt auch, dass es hier ein Stück Normalität bedeutete, zum Gottesdienst
       zu gehen. Man könnte es lustig finden, dass damit die Zeit stehen geblieben
       ist in der JVA, dass hier der Gottesdienstbesuch Zeichen von Dazugehören
       ist, wo er draußen exotisch geworden ist.
       
       Der Mann im grauen T-Shirt möchte nicht den Eindruck stehen lassen, dass
       der Glaube bei den Keksen endet. „Man weiß nicht, ob sie nicht drinnen
       beten“, meint er. Drinnen in den Zellen.
       
       * Name geändert
       
       23 Feb 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Gräff
       
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