# taz.de -- Debütalbum von Benjamin Clementine: Einsam in Paris
       
       > Der afrobritische Sänger Benjamin Clementine wurde in der Pariser Metro
       > entdeckt. Jetzt ist sein Debütalbum „At least for now“ erschienen.
       
 (IMG) Bild: Benjamin Clement schreibt höchst autobiografische Musik.
       
       Benjamin Clementine ist ein Getriebener. Man merkt es schon an der Phrase
       „You understand?“, die seine Interview-Aussagen prägt. Clementines
       Lebenslauf liest sich wie ein Eintrag aus einem Handbuch der Romantik. Er
       trägt Züge eines rastlosen Wanderers: Unverstandenes Kind verliebt sich in
       Spielzeugpiano, schwänzt Schule, um in der Bibliothek Gedichte von William
       Blake und T. S. Elliot zu lesen.
       
       Im Teenalter Umzug aus dem Londoner Vorort Edmonton in eine
       Wohngemeinschaft. Aufbruch nach Paris. Fünf Jahre Obdachlosigkeit,
       schließlich Rettung: Durch Songs, die Clementine in der Pariser Metro
       aufführt, findet er zu sich selbst und wird schließlich entdeckt.
       
       So weit das Märchen, das seit seinem Auftritt in der britischen Talkshow
       „Later … with Jools Holland“ im Herbst 2013 bekannt ist. Damals tätschelt
       Sir Paul McCartney höchstpersönlich dem Nobody die hagere Schulter, kurz
       darauf liegt ihm halb Frankreich zu Füßen. Seit diesem Moment gilt der
       26-Jährige als Held. Im Interview betont er, wie gleichgültig ihm Ruhm ist.
       „Hits? Mir geht es um die Fans. Ich spreche insbesondere zu Menschen, die
       von ihren Eltern verlassen wurden. Ich möchte ihnen ein Gefühl von
       Geborgenheit vermitteln.“
       
       ## Allein am abgedunkelten Piano
       
       „I am alone in a box of stone“, singt er im Song „Cornerstone“, mit dem er
       den Durchbruch schaffte. Allein am abgedunkelten Piano betrauert der Sänger
       unglückliche Liebe und versagte Hoffnung. Seine anrührende Stimme changiert
       dabei zwischen Flüstern, Singen und Bellen. Clementines Oden an ein
       aufreibendes Leben rufen Vergleiche mit Nina Simone hervor.
       
       „Junge Leute erleben intensiv. Aber sie werden wegen der fehlenden
       Lebenserfahrung nicht für voll genommen“, charakterisiert Clementine seine
       Peergroup. „Ich habe diese Songs mit 22 komponiert. Die Entscheidung, nach
       Paris zu gehen, habe ich mit 19 getroffen. Nicht viele in meinem Alter
       würden das tun. Aber ich habe es ganz allein gemacht, mir tat es gut.“
       
       Wer Clementines Debütalbum „At Least For Now“ aufmerksam hört, begegnet
       einer höchst autobiografischen Musik. Begleitet von Streichern, vor allem
       aber vom minimalistischen Klavier steht Clementines Lebensgeschichte im
       Mittelpunkt der Songtexte. „Ich sehe mich weder als Sänger noch als
       Songwriter“, betont er, „ich bin Expressionist.“
       
       ## Auf dem Weg der Selbstwerdung
       
       Dementsprechend benutzt er seine Stimme, um anhand von Timbre- und
       Tempiwechseln Getriebenheit zu untermauern. Auf dem Weg der Selbstwerdung
       besingt er die Einsamkeit. In „Adios“ sprechen gar Engel zu ihm. Diese
       Exaltiertheit erinnert an die Frühphase des Songwriters Patrick Wolf, der
       in den 2000ern Kindheitserinnerungen in Folktronica übersetzt hat.
       
       Es fällt aber auch auf, dass adoleszente Hörer für Clementines
       Hardcore-Dramatik keineswegs die einzige Zielgruppe bilden. Clementine
       lässt stets den Stil seiner Idole Antony Hegarty, Erik Satie und Luciano
       Pavarotti durchschimmern. Drei Künstler, die bisher nicht gerade zum
       Adoleszenzpop-Kanon zählen.
       
       „Ich hatte eine schwierige Kindheit. Deshalb wirkt es glaubwürdig und
       ernsthaft, wenn ich singe. Ich bin froh, mit meiner Musik ein Gespür für
       gewisse Erfahrungen zu vermitteln.“ Wenig bescheiden ernennt sich der
       Autodidakt in einem Song zum Wortführer einer ganzen Generation: „I speak
       for the people and I.“ Ähnlich größenwahnsinnig fällt der Auftaktsong
       „Winston Churchill’s Boy“ aus. „Auf dem Gebiet der menschlichen Zuneigung
       wurde noch nie so viel für so wenig Aufmerksamkeit gegeben“, lauten dessen
       Anfangszeilen.
       
       ## Teil seiner Erfahrung
       
       Was narzisstisch anmutet, betrachtet Clementine als Teil seiner Erfahrung.
       „Ich hatte keine treusorgenden Eltern“, bestätigt er. Deshalb habe er sich
       alles, was sein Leben ausmacht, selbst beibringen müssen. Bedauern tut er
       dies keineswegs. „Ich habe einige traurige Dinge erlebt, aber alles in
       allem sehe ich Hoffnung. Wenn du das Outsider Music nennen möchtest, fein.
       Nur weil mein Sound nicht komplett fassbar ist, heißt das nicht, dass er
       düster ist. Ich strebe nach dem Licht.“
       
       Sein Debütalbum, „At Least For Now“, umschifft die Klippen von
       Majorlabel-Produktionen, weder sind die Arrangements zu dick aufgetragen,
       noch klingt sonst irgendetwas nach Kitsch. Man kann sich beim
       Gänsehautbekommen zusehen, wenn man seine Zeilen „I can see can see can see
       a future“ hört. Zum Lob von Paul McCartney sagt er nur: „Ach ja, ich habe
       Unglück in meinem Leben erlebt. Plötzlich steht diese Legende vor mir.“
       
       Clementines Flüsterstimme gibt es nur im Konzert, am Telefon spricht der
       Brite laut und deutlich. Während Konzerten allerdings ist er streng. „Öffne
       deine Ohren und dein Herz, höre einfach zu.“ Es herrscht Fotografieverbot.
       Clementine verlangt absolute Ruhe. „Dafür kann man nach dem Auftritt gern
       Fotos mit mir machen“, lacht er in den Hörer. „You understand?“
       
       29 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Manthe
       
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