# taz.de -- Experimentalpop von Clarence Clarity: Umarme die absolute Freiheit
       
       > Tolle Klangkarambolage aus Referenzen und Sinneseindrücken: "No Now", das
       > Debütalbum des britischen Elektronik-Produzenten Clarence Clarity.
       
 (IMG) Bild: Geniale Geistesblitze: Clarence Clarity.
       
       Im Sommer 2013 simulierten Forscher erstmals ein Prozent einer
       einsekündigen menschlichen Gehirnaktivität. In 40 Minuten schuf ein
       Supercomputer aus 83.000 einzelnen Prozessoren 1,7 Milliarden virtuelle
       Nervenzellen, die über 10,3 Billiarden Synapsen verbunden waren. Zahlen,
       die die Status-quo-Überlegenheit des Gehirns gegenüber Mikroprozessoren
       manifestieren. Andererseits verläuft dieser Muskelvergleich keineswegs
       monodirektional. Auch unsere biogenen Rechenzentralen eifern seit Anbruch
       des Informationszeitalters wiederum den digitalen Möglichkeiten hinterher.
       So verführt die verlustlose Kopie von Information in der Popkultur mitunter
       zum akustischen Exzess.
       
       Hervorzuheben auf dem Feld der elektronischen Musik wäre zum Beispiel das
       Schaffen des enigmatischen Briten Clarence Clarity. Mit seinem absolut
       gegenwärtigen Sound fokussiert Clarity zwar nicht auf die Eingangsfrage, in
       wie weit Computer und Gehirn heute schon fungibel sind. Vielmehr gleicht
       sein Debütalbum „No Now“ einer Camp-kundigen Phänomenologie medialer
       Sinnesreize. Ein Ergebnis dieser Studie zu den Grenzen der
       Informationsfülle ist sein Sammelsurium an obskuren, teils beängstigend
       apokalyptischen Videocollagen.
       
       Claritys wahrer Name und sein Alter sind unbekannt. Aber sein Sound hat
       hohen Wiedererkennungswert: Die mit viel Filtertechnik versetzten Clips,
       die Tracks wie „The Gospel Truth“ oder „Bloodbarf“ begleiten, gleichen
       einer wahren Datenflut. Pornografische Loops, Totenmasken und reichlich Fin
       de siècle reißen den Zuhörer in einen purgatorischen Strudel hinein und
       stoßen ihn durch die harsche Verfremdung zugleich wieder ab.
       
       Im Interview beschreibt der Brite seine sehr spezifische visuelle Ästhetik:
       „Meine Videolips veranschaulichen das Überfallartige beim Einschalten des
       Internets. Diese lebhaften Bilder, die auf mich einstürzen, die aufpoppende
       Werbung, das ständige Updaten und dieses Gefühl, von alldem überwältigt zu
       werden, um all das geht es mir: Ich suche im Wahnsinn nach Orientierung.“
       Musikalisch quillt sein Opus in 20 Teilen vor lauter Genre-Affekten
       gleichfalls vor Sollbruchstellen über.
       
       ## Orientierungslose Körper
       
       GlitchHop-Arpeggios, Weirdofunk, Chopped-Electronica, Gniedelrockparts,
       Flöten und Xylophone, 8-Bit, Grindcore-Growls, klaustrophobischer R&B,
       polyrhythmischer Grunge, Soulgesang und Witchhouse bilden eine Auswahl an
       Stilmitteln auf „No Now“. Clarence Clarity blättert eine derartige Vielfalt
       auf, dass das motivgebende Gefühl der Orientierungslosigkeit körperlich
       erfahrbar wird. Alles ist over-the-top, alles ist Spektakel. Als wären wir
       in den Körper eines ADHS-Patienten geschlüpft, der sein Gehirn von den
       kakophonischen Eindrücken der digitalen Erfahrung über die Musik wieder
       entleert, gleicht das Album einem einstündigen Trip von Horror nach
       Katharsis.
       
       Brillanterweise wirft Clarity immer wieder rettende Bojen in Form seines
       verfremdeten Falsettgesangs, eines geradlinigen Boombap-Beats oder eines
       einprägsamen Synthielicks ins idiosynkratische Meer. Hinter den grotesken
       Fratzen, die mit dem Übermaß an Informationsinput abrechnen, investiert
       Clarity sich mitunter sogar in postironische Balladesken.
       
       Denn die Grenzerfahrung zielt nicht eigentlich auf Unhörbarkeit, sondern
       kokettiert bloß damit. „No Now“ konserviert sozusagen das Ohnmachtsgefühl
       der Generation Y in einem überschwänglich-erschöpfenden Parforceritt durch
       verschiedenste Genre-Idiome. „Clarence Clarity möchte, dass du die
       Absurdität einer absoluten Freiheit umarmst“, heißt es im dazugehörigen
       Manifest. „Sei dein eigener Gott. Es ist dein Realitätstunnel. Ein Puzzle,
       das man lösen kann, oder glitzerndes, unorganisiertes Chaos? So wie ich das
       sehe, werden wir sowieso eines Tages in Maschinen zusammenfließen.“
       
       Am Schönsten an „Go Now“ jedoch ist: Was beim Hören dieser
       außergewöhnlichen Musik im Gehirn vor sich geht, enträtselt bis auf
       Weiteres kein Computer.
       
       1 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Manthe
       
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