# taz.de -- 70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: 8. Mai – Die Rückkehr zur Wahrheit
       
       > Die Ukraine verabschiedet sich von den sowjetischen Erinnerungsritualen.
       > Das Sieges- und Versöhnungsfest bleibt – nur ohne verlogenen Pathos.
       
 (IMG) Bild: Die Wahrheit hat viele Gesichter.
       
       Was ist eigentlich passiert? „Das ist elementar, Watson! Nichts Schlimmes.
       Es handelt sich lediglich um die Rückkehr zum Triumph der Gerechtigkeit –
       sonst nichts.“
       
       Die Selbstvergnügtheit eines Sherlock Holmes können moderne ukrainische
       Politiker nicht verhehlen, die sich getraut haben, eine revolutionäre
       Entscheidung zu fällen. Und siehe da – im Nu wird ein auf den ersten Blick
       unlösbares ideologisches Problem auf eine pragmatische Schiene geleitet.
       
       Aber Punkt für Punkt. Der ukrainische „Postmaidan“-Präsident Petro
       Poroschenko hat einen Erlass unterschrieben. Von 2015 an wird in der
       Ukraine am 8. Mai, dem „Tag des Gedenkens und der Aussöhnung“, des
       Jahrestags des Sieges über den Nazismus in Europa gedacht. Fast
       gleichzeitig hat das ukrainische Parlament mehrere Gesetze zur
       „Dekommunisierung“ verabschiedet.
       
       Das löste hitzige Diskussionen aus, denn diese Gesetze beinhalten eine
       Verurteilung sowohl des Nazi- als auch des kommunistischen Regimes, den
       Abbau kommunistischer Denkmäler, die Umbenennung von Städten und Straßen
       sowie die Öffnung der KGB-Archive. Der Begriff „Der Große Vaterländische
       Krieg 1941–1945“ wird verschwinden.
       
       Ich kenne keinen einzigen Menschen in der Ukraine, der nicht den Wunsch
       hätte, menschlich zu leben. Menschlich bedeutet unter anderem, die
       vergangenen Ereignisse im Kopf zu ordnen. Und ich bin in meinem Leben nie
       einem Menschen begegnet, der so selbstlos ein Lenin-Denkmal in seiner Stadt
       verteidigt hätte wie diejenigen, die ihre Städte und Dörfer im Osten der
       Ukraine jetzt gegen den russischen Besatzer verteidigen.
       
       ## Hirnlose Tanzorgien am Grab Gefallener
       
       Laut dem neuen Gesetz wird kein Feiertag verlegt und schon gar nicht der
       „Tag des Sieges“ verboten, wie es die hysterische russische Propaganda
       beteuert. Der ukrainische Staat weist lediglich freundlich darauf hin, dass
       mit hirnlosen Tanzorgien am Grabe der Gefallenen Schluss sein sollte. Der
       Gefallenen soll man gedenken, die Unversöhnten versöhnen. Denn seien wir
       ehrlich, in ein paar Jahren gibt es gar keine mehr, die es zu versöhnen
       gilt.
       
       Den Stammbaum meiner Familie kann ich bis 1790 zurückverfolgen. Meine
       sämtlichen Ur-Opas und Ur-Omas sind im Dorf Rostoky in der Bukowina als
       Untertanen Österreich-Ungarns zur Welt gekommen. Die Geburtsurkunde meines
       Vaters ist 1934 im selben Ort vom rumänischen Staat ausgestellt worden.
       Meine Mutter ist am 2. August 1940 geboren – am selben Tag, als die
       Okkupation der Nord-Bukowina auf der Grundlage des Molotow-Ribbentrop-Pakts
       vom Obersten Rat der UdSSR legitimiert wurde.
       
       Ich bin im selben Ort wie meine Vorfahren 15 Jahre nach dem Ende des
       Zweiten Weltkrieges geboren. Wenn ich jetzt Behördenpapiere ausfülle, wo
       ich meine Staatsbürgerschaft angeben soll, bin ich verpflichtet „Ukraine
       seit 1991“ zu schreiben. Aber sage ich die Wahrheit, wo doch schon 225
       Jahre lang meine Vorfahren in ukrainischer Erde ruhen? Dieses Stück Land
       hat in dieser Zeit vier verschiedenen Staaten angehört. Allein in der
       ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wechselte in meinem Dorf 14 (!) Mal die
       Macht.
       
       Solange ich zurückdenken kann, war Anfang Mai in meinem Dorf die Zeit, da
       man Friedhöfe, Gräber und eben auch Denkmäler herausputzte. In meiner
       Kindheit, als es viele aggressive kommunistische Lügen, aber wenig Märchen
       und Sagen gab, war für Zweifel kein Platz. Am Vortag des 9. Mai, des Tags
       des Siegs über die „deutsch-faschistischen Eroberer“, und auch zum Gedenken
       an diejenigen, die von „ukrainischen bürgerlichen deutsch-faschistischen
       Nationalisten“ umgebracht wurden (jaja, genau diese Anschrift prangte an
       einem Denkmal in der Bukowina), haben wir Schüler das Territorium um den
       Obelisken mit dem roten Stern zu Ehren der Gefallenen vor dem Haus der
       Kultur des Dorfes sauber gemacht.
       
       ## Arme Teufel in der Todeshölle
       
       Und auch die Gräber mit solchen roten Sternen auf dem Dorffriedhof, wo die
       Opfer dieser „bürgerlichen deutsch-faschistischen Nationalisten“ begraben
       waren. In die Schule kamen Veteranen: vier Dorfgreise. Ihre Erinnerungen
       waren fad. Aber in den Augen der Kinder waren sie alle Helden.
       
       Heute weiß ich, dass die alten Veteranen vom Land (alle sind schon
       gestorben, Friede ihrer Asche) etwas zu erzählen gehabt hätten, aber sie
       mussten unterschreiben, dass sie nichts sagen würden. Im Sommer 1944 wurden
       sie von dem besetzten rumänischen Territorium aus an die Front geschickt,
       nachdem die Allianz zwischen dem nazistischen Deutschland und Rumänien
       unter Marschall Ion Antonescu zerbrochen war.
       
       Die Dorfbewohner wurden an die Front Europa getrieben – mit einem Gewehr
       für fünf Soldaten, in wattierten Jacken und Strohschuhen, um sich „von
       ihrer Schuld durch Blut freizukaufen“. Wenn sie überlebten, war es gut,
       wenn sie starben, wurde ein Obelisk errichtet und erzählt, wie sie die
       Sowjetmacht in Europa verteidigt hätten und sich dann, nachdem sie bis
       Berlin vorgerückt waren, am Reichstag in Namen Stalins verewigten.
       
       Diejenigen jedoch, die diese armen Teufel in die Todeshölle geschickt
       hatten, schwiegen fast ein halbes Jahrhundert lang – genauso wie am 13. und
       14. Juni 1941. Da „befreiten“ die Hunde des Geheimdienstes NKWD die
       Bukowina von den Landeigentümern, den Aktivisten sowie den Mitgliedern
       ukrainischer patriotischer Organisationen. Die Verwandten einiger der
       damals „Befreiten“ wissen bis heute nichts über deren Schicksal, weshalb
       sie Kerzen in die Dorfkirche und zum Obelisken gegenüber dem Kulturhaus
       bringen.
       
       ## Vom Pathos zu den Fakten
       
       Aus unserem Dorf starb an der eigentlichen Front niemand. In den
       Nachbardörfern – oh mein Gott: Auf den Obelisken sind Hunderte Namen
       Gefallener eingemeißelt! Niemand hat sie angetastet oder durch Inschriften
       beleidigt. Es wurde nur aufgeräumt. Besonders zum 9. Mai.
       
       Sie fragen mich, was mit dem 9. Mai geschehen wird? Nichts Besonderes. Der
       9. Mai wird in der Ukraine das Fest des Sieges über den Nazismus bleiben
       und der 8. Mai der Tag des Gedenkens und der Versöhnung. Der 9. Mai bleibt
       ein staatlicher Feiertag, der 8. jedoch ein normaler Arbeitstag. Aber die
       Akzente, die Akzente … Im ukrainischen Diskurs bedarf die Periode des
       Zweiten Weltkriegs einer Akzentkorrektur. Vom verlogenen Pathos hin zu
       trockenen Zahlen und Fakten.
       
       Für Lemberg begann der Zweite Weltkrieg im September 1939, als auf den
       Straßen gegen die deutschen Hitlertruppen gekämpft wurde. Dabei kamen
       Menschen um. Niemals wird Lemberg (und nicht nur Lemberg) die
       stalinistische Formulierung, der Krieg auf ukrainischem Boden habe im Juni
       1941 begonnen, akzeptieren. Genauso wenig wird die Ukraine dem russischen
       Präsidenten Wladimir Putin seinen dreisten Ausspruch verzeihen, dass die
       UdSSR den Krieg auch ohne die Ukraine hätte gewinnen können.
       
       Einige objektive Zahlen, um diese politische Unverschämtheit zu widerlegen:
       Die Verluste der Ukraine während des Krieges belaufen sich auf 13 Millionen
       Menschen, jeder sechste Bewohner kam um. Es gibt ukrainische Familien, die
       Mitglieder dreier Generationen verloren haben. Die Familie Sergienko verlor
       an der Front 36 Männer, die Familie Gurun 33. Alle stammten aus dem
       ehemaligen Gebiet Woroschilowgrad (heute Lugansk).
       
       ## Niemals klein beigeben
       
       Ist es möglich, das Andenken an eine solche Anzahl ukrainischer Opfer
       auszulöschen, zu vergessen oder zu besudeln? Und ist es möglich, dass die
       Zeit das Gedenken an diese Verluste tilgt? Und wer könnte – angesichts
       dieses Wissen und der Erinnerung an so viel Blut – nicht verstehen, dass
       die Ukrainer niemals klein beigeben und sich einem Aggressor beugen werden,
       der zum Schlag auf ein auch noch so kleines Stück ukrainischer Erde
       ausholt. Politiker können sich einigen und einen Kompromiss eingehen, eine
       Gesellschaft niemals.
       
       Dieses ist auch die Antwort auf die unausgesprochene Frage, ob die Ukraine
       bereit ist, den Donbass in diesem jetzigen Krieg herzugeben. Vor einigen
       Monaten wurde der Leutnant Iwan Gutnyk-Salushnyj im Krieg in der Ostukraine
       getötet. Er war der Enkel des 97-jährigen Kriegsveteranen Iwan Salushnyj,
       der sich jetzt zwar grämt, jedoch stolz auf seinen Enkel ist, der für die
       Heimat gefallen ist.
       
       So etwas nennt man Werte von Generation zu Generation weitergeben. Nennt
       man Patriotismus. Und eine Rückbesinnung auf diesen Tag der Erinnerung und
       der Versöhnung. Der 8. Mai gemäß dem europäischen Kanon – das ist die
       Rückkehr zur Wahrheit. Nicht mehr und nicht weniger.
       
       Das alles sage ich, die Vertreterin einer Generation, die den Zweiten
       Weltkrieg nicht erlebt hat, jedoch regelmäßig an der Front des heutigen
       Krieges ist. Auch dieser Krieg ist heilig. Und ich denke, dass man sowohl
       am 8. als auch am 9. Mai 2015 in der Ukraine darüber laut und vernehmlich
       reden wird.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel und Irina Serdyuk
       
       8 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maria Matios
       
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