# taz.de -- US-Historikerin über Trump und Mamdani: „Es braucht eine neue Form von Widerstand“
       
       > Victoria de Grazia über den fragilen Zustand der USA unter Präsident
       > Trump. Gibt es Hoffnung nach der Wahl von Mamdani zum New Yorker
       > Bürgermeister?
       
 (IMG) Bild: Protest gegen die ICE-Polizei im Viertel Ukrainian Village von Chicago, November 2025
       
       Victoria de Grazias Akku ist leer. Angelehnt an ihr Fahrrad zeigt die
       Historikerin auf ihr schwarzes Handydisplay. Wir stehen vor den
       gusseisernen Toren zum Campus der Columbia-Universität in New York. Dem
       Ort, an dem de Grazia von 1994 bis 2024 als Professorin Geschichte lehrte
       und der seit seiner gewaltsamen Besetzung durch antiisraelische
       Protestgruppen im Frühjahr 2024 abgeriegelt ist wie ein Gefängnis.
       QR-Codes, die uns Einlass verschaffen sollen, sind auf de Grazias
       akkuleerem Handy. Glücklicherweise erinnert sich eine Security-Frau an die
       ehemalige Professorin und gewährt Einlass. „Verrückte Zeiten“, sagt de
       Grazia, während sie ihr Rad auf den Campus schiebt, „peinlich mit diesen
       Sicherheitskontrollen.“ 
       
       De Grazia und ich haben uns schon einmal getroffen. Anfang 2024 in Berlin,
       damals war die deutsche Übersetzung ihres Buches „Der Perfekte Faschist“ im
       Wagenbach Verlag erschienen. Darin beschreibt sie die Geschichte des
       Faschisten Attilio Teruzzi, eines Prototyps des totalitären Systems in
       Italien und eines Mannes voller Widersprüche. 
       
       Seither ist viel passiert: Trumps Wiederwahl, die Zerreißprobe Gaza, und
       jetzt der Höhepunkt einer neuen Manie der Öffentlichkeit, die Wahl des
       jungen Sozialisten Zohran Mamdani zum Bürgermeister von New York. Über all
       das wollen wir sprechen. Allerdings müssen wir das gar nicht, so scheint
       es, denn alles spielt sich direkt vor unseren Augen ab: De Grazia schaut
       plötzlich über meine Schulter und ruft, „Mahmood! Bist du das wirklich?“
       Auf einen Krückstock gestützt hinkt uns ein alter Mann – zerschlissene
       Softshell-Weste, Jogginghose – entgegen. Es ist Mahmood Mamdani, Vater des
       Neubürgermeisters Zohran. Als Professor für Anthropologie war er nicht nur
       langjähriger Kollege von de Grazia, mit seinen apologetischen Thesen zum
       islamistischen Terror sorgte er nach 9/11 auch als öffentlicher
       Intellektueller für Kontroversen. 
       
       „Er hat es geschafft!“, sagt de Grazia mit Tränen in den Augen, „Zohran hat
       es geschafft!“ Sie umarmt Mamdani. „Ja“, antwortet der erschöpft. „Aber ich
       habe Hüftprobleme, ich war gerade beim Arzt.“ Die Historikerin mustert
       ihren Kollegen noch kurz, schüttelt ungläubig den Kopf, als stünde ein
       lebendiges Stück Geschichte vor ihr, dann lässt sie Mamdani davonhumpeln.
       Der dreht sich noch mal um und sagt: „Schreib weiter über Amerikas Kriege –
       das musst du tun!“ De Grazia nickt. Zeit für unser Gespräch.
       
       taz: Was ist mit den USA passiert, seitdem Donald Trump erneut Präsident
       ist? Was mit New York, dieser Insel in Trumps politischem Hochwassergebiet? 
       
       De Grazia: Das einzig Gute an Trumps Wiederwahl war, dass sie das
       Oppositionsgefühl gestärkt hat: moralische Empörung, eine breite
       Beteiligung. Das hat sich [1][mit Mamdanis Sieg] erstmals auch anhand von
       Wahlergebnissen gezeigt. Davor ließ sich das nur an einer eher diffusen
       Form von Widerstand ablesen: [2][Anti-Trump-Proteste wie Third Act oder No
       Kings; die Interventionen gegen ICE in vielen Städten]. Ja, die
       Zivilgesellschaft in den USA ist resilient. Und diese Tatsache erfährt
       jetzt mehr Aufmerksamkeit.
       
       taz: Auch außerhalb von New York wurde am 4. November gewählt. 
       
       De Grazia: Ja, zum Beispiel in New Jersey. Viele Demokraten hatten Angst,
       dass ihre moderate Kandidatin, Mikie Sherrill, nicht gewinnen könnte – dass
       der MAGA-Zug immer noch kraftvoller sein könnte. Aber sie hat gewonnen.
       Genauso Abigail Spanberger in Virginia. Das ist fast schon ein Linksruck.
       
       taz: Was ist mit Gavin Newsom, dem demokratischen Gouverneur von
       Kalifornien? Er inszeniert sich als Linkspopulist. Wie bewerten Sie das? 
       
       De Grazia: Er muss das tun! Als Strategie. Sehen Sie, im historischen
       Antifaschismus zum Beispiel musste man immer unterscheiden zwischen Haupt-
       und Nebenwiderspruch. Priorisieren. Popularität zurückgewinnen ist jetzt
       Priorität. Was dabei schwierig werden könnte, ist, die Mitte der
       Demokratischen Partei von diesem Kurs zu überzeugen. Die hat andere
       Prioritäten, als die Opposition breiter aufzustellen. Deshalb verweigern
       sie auch Mamdani die Unterstützung.
       
       taz: Denken Sie, dass sich das jetzt, nach seinem Wahlerfolg, ändern wird? 
       
       De Grazia: Ich kann mir nicht vorstellen, wie. Die Parteiführung – Chuck
       Schumer beispielsweise – ist gegen Veränderung. Das war schon bei den
       populistischen Wahlkampagnen von Bill Clinton und Barack Obama so. Auch
       damals haben wir erwartet, dass nach deren Erfolgen die Basis breiter, die
       Partei zu einer Art sozialer Bewegung wird. Geändert hat sich trotzdem
       nichts. Es bleibt also unklar, ob die Demokratische Partei die
       Mamdani-Bewegung unterstützen wird. Die Partei ist gespalten.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       De Grazia: Die USA ist regional sehr unterschiedlich. Jeder Ort ist anders,
       auch politisch. In Virginia und New Jersey regiert jetzt das konservative
       Establishment der Demokraten und in New York bildet sich mit Mamdani ein
       neuer Typ Partei. Seit Kurzem gibt es dort dieses Aktionsprojekt, dessen
       Mitglied man werden kann – wie eine Bewegungspartei, wie bei den
       demokratischen Sozialisten, denen Mamdani angehört.
       
       taz: Oder wie bei Trump und seiner MAGA-Bewegung? 
       
       De Grazia: Ja, allerdings weiß ich noch nicht, ob das bei den Demokraten
       genauso funktionieren wird. Trump als despotischer Präsident verfügt über
       viel mehr persönliche Macht. Er kann Menschen aufhetzen, wieder
       zurückbeordern, dann erneut Druck machen. Mit ICE hat er jetzt sogar eine
       Miliz. Außerdem schaffen solche Bewegungsparteien und ihre Polarisierung
       für Behörden große Probleme. Behörden arbeiten konservativ, sie haben feste
       Budgets oder sind auf Anleihen angewiesen. In der New Yorker
       Kommunalverwaltung läuft fast alles über Anleihen.
       
       taz: Verfolgt Trump damit ein langfristiges politisches Ziel? 
       
       De Grazia: Klar, er will demokratische Institutionen schwächen – seine
       Macht zentralisieren. Zugleich baut er ICE immer weiter aus, schafft neue
       militärisch-zivile Beziehungen – schickt Militär in die Städte. Er setzt
       auf Tempo, schwankende Manöver in der Ukraine und anderswo und verrückte
       nukleare Eskalationsspiele. Das erschüttert alle.
       
       taz: Er schafft also Verunsicherung. Ist das eine Taktik? 
       
       De Grazia: Natürlich, Destabilisierung ist zentral für sein Regime. Auch
       wenn viele Kommentatoren in den USA und Europa sein Handeln als
       „inkonsistent“ bezeichnen. Ich stimme da nicht zu. Seine Inkonsistenz ist
       eine gefährliche Taktik. Als Historikerin kenne ich das. Unter Stalin
       bedeutete diese Verunsicherung brutale psychologische Kontrolle: Er konnte
       sonst was befehlen, alle folgten, dann befahl er das Gegenteil. So bewies
       er absolute Macht. Diese Taktik ist typisch für solche Regime.
       
       taz: Was für Regime? 
       
       De Grazia: Das von Trump nenne ich populistischer Despotismus.
       
       taz: Ein neuer Begriff. Sie gelten als scharfe Kritikerin, wenn es um
       Faschismusvergleiche in der Gegenwart geht. Also, warum nicht Faschismus,
       wie Trumps Systemumbau in der US-Öffentlichkeit von immer mehr
       Kommentatoren bezeichnet wird? 
       
       De Grazia: „Faschismus“ zu sagen, hat keinerlei analytischen Nutzen. Vor
       Trumps Wiederwahl sagten viele, er sei ein Faschist. Hat der Begriff
       irgendetwas vorhergesagt – seine Kanonenbootdiplomatie, ICE, die
       Luftangriffe in Venezuela? Nein. Faschismus ist das historische
       Hegemoniemodell einer bestimmten Zeit, circa von 1920 bis 1945, und einer
       Achse verschiedener Länder mit imperialen Bestrebungen, wie Deutschland und
       Italien. Die teilten die gleiche Fantasie einer globalen Hierarchie von
       „Rasse“ und die gleichen Feinde: alte und neue Imperien, wie die USA,
       Großbritannien und die Sowjetunion. Aber heute? Da wirkt der Begriff vor
       allem wie ein moralisches Label, der Superlativ einer Beleidigung. „Trump
       ist ein Faschist!“ Gemeint ist: „Trump ist ein Stück Scheiße.“ Nützlicher
       wäre es, festzustellen, dass ein gravierender ökonomischer Wandel
       stattfindet, eine Polykrise des globalen Systems, in der jedes Land
       versucht, zu überleben. Das gegenwärtige Modell eines populistischen
       Despotismus scheint besonders attraktiv zu sein, um eine kaputte
       Klassenstruktur zu kompensieren – die ausgehöhlten Mittelschichten, die
       neuen Klassenzusammensetzungen.
       
       taz: Das heißt, historische Vergleiche vermeiden? 
       
       De Grazia: Der Vergleich geht nur in einem Bereich auf: Regime wie das von
       Trump brauchen Streitkräfte jenseits der Armee – eine soziale
       Kontrollinstanz. Im Faschismus waren das paramilitärische Gauner wie
       Mussolinis Schwarzhemden und [3][Hitlers SA]. Trump hat ICE. Aber in den
       USA ist das so: Jedes Mal, wenn es Krieg gibt, wird die Polizei
       militarisiert. ICE verfügt jetzt schon über Hubschrauber und militärische
       Ausrüstung. Und ICE wird bleiben, auch unter einem neuen Regime. Die USA
       wird langfristig militarisiert. Trump verändert also das Verhältnis
       zwischen militärischen und zivilen Kräften. Gleichzeitig schwächt er
       gezielt Institutionen, die dieses Verhältnis in Balance halten:
       Anwaltskanzleien, Medien, Universitäten.
       
       taz: Und diesen Prozess Faschismus zu nennen, hilft nicht dabei, ihn
       aufzuhalten? 
       
       De Grazia: Nein, der Begriff erklärt nicht, was wir wissen wollen: Ist
       Trump überhaupt fähig zu regieren? Sein Machtapparat ist diffus,
       ideologisch zerstritten, seine Popularität durch wirtschaftliche
       Fehlentscheidungen geschwächt. Und wenn man den Begriff „Faschismus“ ernst
       nimmt, impliziert das andersherum auch „Antifaschismus“. Historisch
       bedeutete der vor allem ein klares Programm – eine Avantgarde, die genau
       verstand, was Faschismus ist, und feststehende Volksfront-Parteien, die
       Widerstandsimpulse in Aktionspläne übersetzten. Heute ist das nicht mehr
       so. Deshalb müssen wir eine neue Form von Widerstand definieren. Und das
       geht nur, wenn wir verstehen, was genau sich vor unseren eigenen Augen
       entfaltet. Abstrakte Faschismusvergleiche helfen dabei nicht.
       
       19 Nov 2025
       
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