# taz.de -- Trümmer und Träume in Syrien: In der Heimat ohne Wurzeln
       
       > Unsere Autorin ist Tochter von Olivenbauern in der Region Idlib. Nach der
       > Befreiung ihrer Stadt kehrt sie zurück – und findet nur einen Haufen
       > Steine.
       
 (IMG) Bild: Olivenbäume waren nicht nur Lebensgrundlage, sie waren das Herzstück der Familie
       
       Ich hätte nicht gedacht, dass die Rückkehr in meine Heimatstadt Ma'arat
       Harma in der Provinz Idlib so hart werden würde. Sechs Jahre nach unserer
       [1][Vertreibung durch Assads Truppen] machte sich meine Familie am ersten
       Dezember 2024, noch vor dem Fall des Regimes, für einen kurzen Besuch von
       nur wenigen Stunden auf den Weg dorthin. Unsere Stadt war gerade von
       [2][HTS-Rebellen] befreit worden.
       
       Bei unserer Vertreibung, in jener Nacht im Mai 2019, waren Flugzeuge über
       unserem Haus gekreist. Sie bombardierten alles. Ich erinnere mich daran,
       wie meine kleine, damals achtjährige, Schwester betete, dass wir überleben.
       Um fünf Uhr morgens stoppten die Bombardierungen für eine kurze Weile,
       sodass wir mit unserem kleinen Auto und wenig Gepäck fliehen konnten. Ich
       nahm nur mein Tagebuch, meine Kamera, meine Lieblingspuppe und ein paar
       Kleidungsstücke mit.
       
       Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die die Landwirtschaft liebt. Mein
       Vater bezeichnet sich als Bauer, obwohl er Lehrer in der Schule von Ma'arat
       Harma war. Meine Mutter ist Hausfrau, die das Landleben liebt und
       Olivenbäume verehrt, die sie trotz ihres hohen Alters nach wie vor mit
       ihren Händen pflegt.
       
       Unser Bauernhaus war früher von mehr als zweitausend Olivenbäumen umgeben.
       Diese Bäume waren nicht nur Lebensgrundlage, sie waren das Herzstück der
       Familie. Einige von ihnen waren mehr als zweihundert Jahre alt, wurden von
       unseren Urgroßvätern gepflanzt und an unsere Großväter und Väter vererbt.
       Wir hofften, sie an unsere Kinder weitergeben zu können.
       
       ## Die Wiege des Olivenbaums
       
       In unserer Region symbolisiert der Olivenbaum Beständigkeit und
       Verwurzelung und gehört zu unserer Identität. Er erzählt Geschichten, wie
       die Menschen hier mit ihrem Land verbunden sind. Wir feiern seine
       Jahreszeiten, bewahren seine Standorte, wir schätzen seine Sorten und den
       Geschmack seines Öls. Wir kennen jeden einzelnen Baum so gut wie unsere
       Familienmitglieder.
       
       Der Anbau von Olivenbäumen in Idlib reicht mehr als sechstausend Jahre
       zurück. Man nimmt an, dass die Wiege des Olivenbaums in Syrien liegt,
       archäologische Funde in der Nähe von Aleppo deuten darauf hin, dass die
       alten Syrer die Bäume als wichtige wirtschaftliche und kulturelle Ressource
       nutzten. Schätzungsweise 106 Millionen Olivenbäume gibt es landesweit, fast
       die Hälfte wachsen in den nördlichen Regionen rund um Idlib und Aleppo.
       
       Anfang Dezember 2024 kehrte ich also in meine Kleinstadt zurück und fand
       nichts mehr vor: kein Elternhaus, keine Bäume, keine Erinnerungen. Ich fuhr
       denselben Weg, auf dem wir 2019 vertrieben worden waren, der damals von
       Olivenbäumen gesäumt war wie ein Meer.
       
       ## Ausgelöschte Erinnerung
       
       Heute liegt an dem Ort, an dem unser Haus stand, nur ein Haufen Steine, die
       Olivenhaine sind verschwunden. Geblieben ist öde, unfruchtbare Erde. Alle
       Bäume wurden systematisch gefällt und verbrannt, so als wollte das
       Assad-Regime unsere Wurzeln kappen und jede noch so kleine Spur, die darauf
       hindeutete, dass wir hier lebten, auslöschen.
       
       Was uns geschah, ist kein Einzelfall. Millionen von Olivenbäumen in der
       Region Idlib wurden während der Zeit, in der die Provinz unter Assads
       Kontrolle stand, gefällt, versteigert, verbrannt. Für unsere Familie ist
       dies nicht nur ein enormer wirtschaftlicher Verlust, vielmehr ein gezielter
       Angriff auf unsere Identität. Wer einen hundertjährigen Baum fällt, will
       doch kein Brennholz haben, er zerstört Wurzeln und versucht die Erinnerung
       auszulöschen.
       
       Wie aber soll ein Mensch in seine Heimat zurückfinden, um deren Wurzeln er
       beraubt wurde? Wie kann er sich eine Zukunft an einem Ort aufbauen, an dem
       die Vergangenheit keine Spuren hinterlassen hat? Am meisten verwirrt mich
       heute die Hartnäckigkeit, mit der unsere Olivenbäume gefällt wurden. Denn
       die Abholzung erfordert große Anstrengungen, schweres Gerät und viel
       Entschlossenheit. Welcher Hass treibt einen Menschen dazu an, all diese
       Mühen auf sich zu nehmen?
       
       ## Neuanfang
       
       In diesen Tagen sprechen die Menschen viel über den [3][politischen Wandel
       in Syrien], über einen Neuanfang mit einer neuen Verfassung, über die
       Chancen zur Aussöhnung der Gesellschaft. Doch kaum jemand fragt, wohin die
       Vertriebenen zurückkehren sollen. Eine Rückkehr in unsere Stadt ist derzeit
       fast unmöglich. Es gibt keine Häuser, kein Wasser, keinen Strom, nichts.
       
       Unsere Familie würde viele Jahre, Kraft und Geld benötigen, um die
       verlorenen Häuser wieder aufzubauen und die Olivenhaine neu zu bepflanzen.
       Das bedeutet nicht, dass wir unsere Heimat aufgeben. Wir werden sie
       besuchen und zurückkehren, wann immer wir können. Wir werden die wieder aus
       der Erde sprießenden Baumwurzeln gießen und neue Bäume pflanzen.
       
       21 Aug 2025
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hanin Al-Sayed
       
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