# taz.de -- Repression in Russland: Des Menschseins beraubt
       
       > Russlands Repressionsapparat nimmt den Menschen die Empathie. Anteilnahme
       > für die ukrainischen Opfer zeigt sich nur im Kleinen.
       
 (IMG) Bild: Trauer und Protest: Blumen am Taras-Schewtschenko-Denkmal in St. Petersburg
       
       Moskau taz | Das Mädchen hat sein Plakat bunt gestaltet. Hat die Ränder mit
       schwarzem Filzstift betont, jeden Buchstaben anders ausgemalt. Nervös steht
       sie da, etliche Passagiere eilen an ihr vorbei. Sie achtet nicht auf die
       Menschen, sie achtet darauf, das Plakat hoch genug zu halten. „Onkel Petja,
       willkommen zurück“, steht darauf.
       
       Ein großes schwarz-oranges Z prangt mittendrin, das Zeichen für Russlands
       „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine. Für Russlands
       Vernichtungskrieg. „Onkel Petja, du bist unser Held!!!“, hat das Mädchen in
       krakeliger Kinderschrift geschrieben.
       
       Ihre Augen suchen nun in der Menge nach „Onkel Petja“. Nach dem aus dem
       Kampf zurückgekehrten Soldaten, [1][genauso belogen und getäuscht wie die
       Zehnjährige] am Flughafen von Irkutsk in Sibirien. Verblendet wie Millionen
       Menschen in Russland, die sich in einer Lüge eingerichtet haben, bewusst
       oder unbewusst.
       
       Seit einem Jahr – und letztlich noch länger – glauben sie die Geschichte
       des russischen Erstschlags, der Bedrohung von außen, des Ringens um die
       eigene Souveränität, [2][der Weiterführung ihres Heldenepos aus dem Zweiten
       Weltkrieg] vom Kampf gegen den Faschismus. Sie wollen es glauben, mit aller
       Kraft. Zweifel schieben sie beiseite: „Die Politiker werden es schon besser
       wissen.“
       
       ## Grab oder Gefängnis
       
       Sie haben gelernt, sich nicht einmal selbst zu trauen, von klein auf. Haben
       voller Erniedrigungen eingetrichtert bekommen, nicht zu reflektieren, etwas
       infrage zu stellen. Eltern, Lehrer*innen, der gesamte Staatsapparat haben
       ihnen beigebracht, sich zu fügen, den Kopf bloß nicht hinauszustrecken.
       Gefahr!
       
       Dieser Haltung haben sich viele ergeben, sie ist bequem, sie ist scheinbar
       ungefährlich. Sie schiebt die Verantwortung jedes Einzelnen weit von sich.
       Was ist auch die Wahl in einem Land, das sich nie seiner totalitären
       Vergangenheit stellte, das auch seine totalitäre Gegenwart weit von sich
       weist? Grab oder Gefängnis. Oder der völlige Rückzug ins Schweigen, ins
       Hinnehmen, ins unwidersprochene Gutheißen.
       
       Die Mehrheit der Menschen in Russland hält sich an die Version, die die
       Propagandist*innen des Kremls ihren Zuschauer*innen einbläuen, sie
       ist zu ihrer Wahrheit geworden, die kaum etwas erschüttern kann. Auch nicht
       der Tod des eigenen Vaters, Bruders, Sohnes.
       
       Es sei besser, im Kampf fürs Vaterland zu sterben als bei einem
       Verkehrsunfall, erklärt ihnen Präsident Wladimir Putin von den Bildschirmen
       herab. Die Männer gehörten dem Staat, sagt ein Gouverneur in Sibirien und
       überreicht den Witwen gewobene Tücher. Manche Hinterbliebene werden mit ein
       paar Säcken Kartoffeln ruhig gestellt, andere bekommen Pelzmäntel oder
       Geld, das für den Kauf eines Lada reicht. So viel ist der tote Sohn wert.
       
       ## Fatalismus gepaart mit Angst
       
       „Schicksal“, sagen die Menschen leise und geben sich dem erzwungenen
       Fatalismus hin, der nie verschwunden war aus dem Land. Die immerwährende
       Angst vor der Staatsmaschinerie wurde schon ihren Vorfahren zu Sowjetzeiten
       eingeimpft. Sie wurde weitergegeben [3][wie auch die Arroganz, als Russe
       die Wahrheit in sich zu tragen, der imperiale Gedanke, es besser zu
       wissen,] was für alle anderen gut sei – und dieses „Gute“ gegebenenfalls
       mit Gewalt durchzusetzen.
       
       [4][Es gebe nichts Männlicheres, brüllen die Krakeeler*innen des
       Staatsfernsehens,] als auf dem Schlachtfeld sein Leben zu lassen. Sterben
       müsse der Mensch eh, die zwanzig, dreißig Jahre, die er vielleicht länger
       leben könnte, seien ja nichts im Gegensatz zu der „rechten Sache“, für die
       Russland – „seines Rechtes sicher“, wie auch Putin kürzlich erklärte – sich
       einsetze. Das hören die Menschen Tag um Tag, leben mit dem immer
       widerwärtigeren Zynismus, mit der Ideologie des Todes, denn anderes hat der
       Staat nicht zu bieten.
       
       [5][Der Krieg ist längst zur Gewohnheit geworden, etwas, das nebenher
       läuft, auch wenn der Nächste weg ist, im Kampf, gefallen, versteckt,
       geflohen.] Auch wenn für all die „Onkel Petjas“ Ausrüstung gekauft wird,
       Thermounterwäsche, Stiefel, Essenspakete. Die „Seinen“ lasse man
       schließlich nicht im Stich, heißt es von überallher. Mögen die „Seinen“
       auch in Zinksärgen zurückkehren, wenn sie überhaupt zurückkehren.
       
       Den Familien bleibt ein Orden, posthum verliehen. Und oft auch die
       Überzeugung, es müsse weitergekämpft werden. Noch härter, noch blutiger.
       Das Inhumane bekommt für sie Sinn. Das Menschenleben, es war bereits zu
       Sowjetzeiten kaum etwas wert. Das Individuum zählt bis heute wenig. Das
       Volk gibt es lediglich als Masse, schert einer aus, folgt die Ausgrenzung.
       Offener Protest wird so erstickt.
       
       ## Der Vorschlaghammer
       
       Wer all die offiziell verkündeten Verdrehungen infrage stellt, dem drohen
       die hartgesottenen Kriegsbefürworter*innen mit Bestrafung durch einen
       Vorschlaghammer. Mit solch einem Gerät haben Gefolgsleute der brutalen
       Privatarmee „Wagner“ vor wenigen Monaten einen Überläufer aus den eigenen
       Reihen vor Handy-Kameras gefoltert und getötet. Das Russische hat sogleich
       ein Wort geschaffen für solch ein Vorgehen: „otkuwaldit“, mit einem
       Vorschlaghammer bearbeiten.
       
       Bei jedem Funken Kritik drohen die radikalen Patrioten mittlerweile mit
       dieser Methode. Es gibt keinen öffentlichen Aufschrei dagegen, selbst
       Parteivorsitzende loben „Wagners Vorschlaghammer“. Das Folterinstrument ist
       zu einem Symbol des heutigen Russland geworden, die Brutalität bestimmt
       längst den politischen Ton.
       
       Die Gesellschaft, verarmt, verängstigt, unterwürfig, hat ihre Gefühle quasi
       abgestellt. Ilja, ein Fachmann aus der Goldförderbranche in Sibirien, kann
       zwar recht genau sagen, was Russland wirtschaftlich durch den Krieg
       verliert, auf die Menschen in der Ukraine geht er bei all seiner Kritik,
       die er am russischen Staat übt, aber nicht ein. Sie scheinen ihm fern. Kein
       Mitleid, keine Empathie.
       
       Der Krieg hat in den Erzählungen der Menschen, selbst solcher, die sich die
       Frage nach dem „Warum?“ stellen, lediglich etwas Technisches. Das
       Menschliche – das Leid, die Zerstörung, die Traumata auf Jahre hinaus – es
       findet kaum Platz in den Gedanken. Die Menschen stehen hilflos da und sagen
       sich: „Was kann ich schon tun?“
       
       ## Russische Verbrechen in Butscha
       
       Dem Repressionsapparat etwas Legales entgegenzusetzen ist in einem Land, in
       dem die Polizei alles tun darf und die Gerichte das hinnehmen, in der Tat
       eine Herausforderung. Zuweilen ist es schlicht unmöglich, ohne dafür für
       Jahre ins Gefängnis zu gehen.
       
       [6][Für Sätze über russische Verbrechen in Butscha,] fürs Hinterfragen
       dessen, ob Malwettbewerbe für Kinder in Zeiten des Krieges überhaupt
       passend seien, für die Position „Nein zum Krieg“. Für Menschen, die nicht
       selten ums reine Überleben kämpfen, ist Protest gar keine Frage im Leben.
       
       Der Staat hat seine Bürger ihrer Rechte beraubt, er hat ihnen das
       Menschsein genommen. Hat sie zu Zynikern gemacht, die oft das tun, wofür er
       sie bezahlt: fürs Töten in der Ukraine. Fürs Schweigen über dieses Töten in
       Russland.
       
       Die Reste an Humanität zeigen sich dabei leise, fast unsichtbar. Sie zeigen
       sich in Form von Blumen, die einige Unerschrockene nach dem Beschuss eines
       Wohnhauses im ukrainischen Dnipro an Denkmälern quer durch Russland
       niederlegen. Am Ukrainski Boulevard in Moskau, nicht weit vom Weißen Haus,
       Russlands Regierungssitz, schauen sich die Menschen nervös um, wenn sie zum
       Denkmal der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka gehen.
       
       ## Nelken und Rosen
       
       Im Blumenladen um die Ecke wundern sie sich über die Nachfrage. Die
       Menschen kommen noch Wochen nach dem Raketeneinschlag an die Granitstatue.
       Nelken, Rosen und Chrysanthemen sind zum Zeichen eines persönlichen
       Protests geworden. In mehr als 60 russischen Städten sind solche spontanen
       Gedenkstätten entstanden. „Ich kann wenig ausrichten, aber ich kann nicht
       nichts tun“, sagen die Menschen, die Teddybären, Äpfel, Blumen ablegen,
       sich bekreuzigen, manche knien nieder.
       
       Sie trauern, auch wenn der Staat ihnen die Trauer verbietet, ihnen ihre
       Empathie austreiben will. Er schickt Polizeiwagen, lässt die Polizisten an
       den Denkmälern Wache schieben. Die Kommunalarbeiter räumen jeden Abend die
       Blumen weg, am nächsten Morgen liegen neue da. Es sind wenige, aber sie
       zeigen öffentlich, dass die Menschen nicht allein sind. Die Protestierenden
       mit den Blumen durchbrechen das auferlegte Schweigen und zeigen den
       Vorbeieilenden: „Es ist etwas so gar nicht in Ordnung hier.“
       
       18 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Kriegspropaganda-bei-Kindern/!5906866
 (DIR) [2] /Stalingrad-Gedenken-in-Russland/!5913248
 (DIR) [3] /Russische-Propaganda/!5908628
 (DIR) [4] /Propaganda-in-russischen-Staatsmedien/!5884294
 (DIR) [5] /Moskau-und-der-Krieg-in-der-Ukraine/!5888866
 (DIR) [6] /Hartes-Urteil-gegen-Kreml-Kritiker/!5902246
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Inna Hartwich
       
       ## TAGS
       
 (DIR) wochentaz
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Repression
 (DIR) Empathie
 (DIR) Kreml-Kritiker
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Emmanuel Macron
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Internetnutzung
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
 (DIR) Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Jelena Ossipowa demonstriert in Russland: „Den Krieg sofort beenden“
       
       Die 77-jährige Frau protestiert seit einem Jahr in Sankt Petersburg. Sie
       sagt, sie habe nichts zu verlieren – und kein Geld, um Strafen zu bezahlen.
       
 (DIR) Angst vor mehr russischen Angriffen: Putins große Show zum Jahrestag
       
       Die russische Propaganda läuft auf Hochtouren. In der Ukraine fürchtet man
       Putins Vorliebe für Symbole – und damit eine Großoffensive zum Jahrestag.
       
 (DIR) Münchner Sicherheitskonferenz: Schlacht um Frieden
       
       Auf der Sicherheitskonferenz diskutieren Politiker über Auswege aus dem
       Ukrainekrieg – ohne Vertreter Russlands. Das erhält auf Demos
       Schützenhilfe.
       
 (DIR) Russische Kräfte in Moldau: Protest in Moldau, Kampf um Bachmut
       
       Mit der Verteidigung der Donbass-Stadt Bachmut will die Ukraine russische
       Kräfte binden. In Moldau demonstrieren prorussische Kräfte.
       
 (DIR) Russia Today von Luxemburger Firma unterstützt: Kriegsspiele gegen EU-Sanktionen
       
       Russia Today verbreitet weiter Moskaus Propaganda in der EU. Eine
       Luxemburger Firma hilft mit einem deutschen Server. Eine Recherche von
       CORRECTIV und taz.
       
 (DIR) Stalingrad-Gedenken in Russland: Aktualisierte Erinnerung
       
       Am 2. Februar 1943 kapitulierte die Wehrmacht in Stalingrad. 80 Jahre
       danach nutzt Russland das für seine Propaganda im Krieg gegen die Ukraine.
       
 (DIR) Kriegspropaganda bei Kindern: Russlands kleine Schulsoldaten
       
       Der Kreml schwört den Bildungssektor auf antiwestliche Ideologie ein. Bei
       Kritik bekommen es selbst Grundschüler*innen mit Behörden zu tun.