# taz.de -- Proteste in Chile: Zwischen Wut und Tränengas
       
       > Auch nach der Absage der Klimakonferenz geht die Polizei hart gegen die
       > Demonstrierenden vor. Die Umfragewerte des Präsidenten sinken.
       
 (IMG) Bild: Mindestens 20 Demonstranten sind in Chile bei den Protesten getötet worden
       
       Santiago de Chile taz | Fast zwei Wochen nach dem [1][Ausbruch der
       Massenproteste in Chile] gleicht die Hauptverkehrsstraße Alameda in Chiles
       Hauptstadt Santiago einem Schlachtfeld. Eine Mischung aus Rauch und
       Tränengas hängt in der Luft. An jeder Straßenecke stehen Polizisten mit
       Kriegswaffen ausgerüstet. Jede auch nur noch so kleine Ansammlung von
       Menschen wird sofort mit Wasserwerfern, Tränengas, Pfefferspray und
       Schüssen auseinandergetrieben.
       
       Erst am Mittwoch hatte Chiles Präsident Sebastián Piñera wegen der
       anhaltenden Proteste die im Dezember geplante [2][UN-Klimakonferenz (COP25)
       abgesagt]. Doch die Absage steht derzeit nicht im [3][Fokus der
       Demonstrierenden].
       
       Am Plaza Italia, dem traditionellen Treffpunkt, haben sich Tausende
       Menschen zusammengefunden und blockieren den Kreisverkehr. Sie singen
       „Chile Despertó“, „Chile ist aufgewacht“. Die Stimmung ist friedlich und
       feierlich. „Ich protestiere für ein gerechteres Bildungssystem, eine
       würdevolle Rente für meine Großeltern und ein besseres Gesundheitssystem.
       
       Deshalb sind wir hier und kämpfen“, erzählt die Psychologiestudentin Maira
       Cisterna. Sie musste sich verschulden, um die Universität zu besuchen. Es
       wird jeden Tag gefährlicher hier am Plaza Italia für die Demonstrierenden.
       „Die Polizisten schießen auf uns aus geringer Distanz. Hier werden keine
       Menschenrechte respektiert“, sagt Cisterna.
       
       ## Ins Auge Geschossen
       
       Untersuchungsteams von den Vereinten Nationen und von Amnesty International
       sind gerade in Chile, um die Lage der Menschenrechte zu untersuchen. „Die
       Gesellschaft wird traumatisiert und das muss die Regierung verstehen“,
       sagte Pilar San Martín von Amnesty International im chilenischen
       Fernsehen.
       
       Der 24-jährige Student Rodrigo Lagarini aus Concepción ist am Mittwoch nach
       Santiago gekommen, um in der Menschenrechtskommission des Senats
       vorzusprechen. Er hat ein Auge verloren, weil ein Polizist bei einem
       friedlichen Protest aus 20 Meter Distanz eine Tränengasbombe in sein Auge
       geschossen hat. „Was mir passiert ist, sollte niemandem mehr passieren. Wir
       sind doch Menschen, keine Tiere. Ich verstehe nicht, warum die Polizisten
       nicht einsehen, dass dieser Kampf nicht gegen ihr eigenes Volk ist, sondern
       gegen die Größeren, die gar nicht interessiert, was hier passiert, weil sie
       so viele Privilegien haben. Wir brauchen einen Wandel“, sagte er in der
       Kommission.
       
       146 Personen wurden bisher während der Proteste ins Auge geschossen, wie
       Zahlen des Nationalen Instituts für Menschenrechte belegen. Insgesamt gibt
       es 1.305 Verletzte in Krankenhäusern, 4.271 Festnahmen und
       Regierungsangaben zufolge 20 Tote. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel
       höher. Von der Regierung gibt es keine offiziellen Zahlen zu Verletzten. An
       den Verband Feministischer Anwältinnen Abofem haben sich bisher 35 Frauen
       gewendet, die von Polizisten oder Soldaten sexuell missbraucht oder
       vergewaltigt wurden.
       
       Aufgrund der vielen Toten, Verletzten und Verhafteten während der Proteste
       bezeichnen immer mehr Rechtswissenschaftler das Verhalten der chilenischen
       Regierung als verfassungswidrig. Tomás Ramírez, Anwalt und Jurist der
       rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile, sagt: „Was wir
       in Chile erleben, ist eine systematische Verletzung der Rechte aller
       Personen, ob sie protestieren oder nicht. Die Maßnahmen der Regierung sind
       verfassungswidrig und widersprechen den internationalen
       Menschenrechtsabkommen.“
       
       ## Amtsenthebungsverfahren gegen Piñera
       
       Abgeordnete der Opposition haben deshalb eine Verfassungsklage gegen den
       ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick eingereicht und arbeiten gerade an
       einer Verfassungsklage und einem Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident
       Piñera. Angestoßen wurde die Initiative von Abgeordneten des Bündnisses
       Frente Amplio und des Partido Comunista. Die nötigen Unterschriften für den
       Prozessbeginn haben sie bereits gesammelt, aber für eine Amtsenthebung sind
       zwei Drittel der Stimmen des Senats notwendig.
       
       Piñeras Umfragewerte befinden sich im Keller, die Zustimmung für ihn ist
       auf 14 Prozent gesunken. Die Umfrage offenbart, dass 80 Prozent der
       Bevölkerung die sozialen Reformen für unzureichend halten. „Die Regierung
       befindet sich in einer Sackgasse. PiñerasRücktritt ist eine der Forderungen
       der Bürger“, sagt Octavio Avendaño, Politikwissenschaftler der Universidad
       de Chile.
       
       Während am Plaza Itala weiter protestiert wird und Rechtswissenschaftler
       und Oppositionspolitiker an der Verfassungsklage gegen Piñera arbeiten,
       haben sich in ganz Chile basisdemokratische Nachbarschaftsvereinigungen
       gegründet, sogenannte „cabildos“ oder „asambleas autoconvocadas“. Im
       Zentrum Santiagos im Barrio Yungay kommen jeden Abend hunderte Menschen
       zusammen und organisieren sich in Kleingruppen, um ihre Forderungen zu
       besprechen. Es gibt verschiedene Kommissionen: Bildung, Gesundheit,
       Kommunikation, Ernährung, Transport.
       
       ## Mit Kochtöpfen Lärm gemacht
       
       Die 28-jährige Claudia Sepúlveda ist eine der Sprecherinnen der
       Versammlung. Sie hat als 14-jährige an den Schülerprotesten im Jahr 2006
       teilgenommen. „Wir besetzen jetzt nicht mehr die Schulen, sondern die
       Straßen. Wir erleben ein ganz neues Gefühl, eine tiefsitzende Wut aber
       gleichzeitig eine neue Hoffnung. Eine Hoffnung auf ein besseres Leben“,
       sagt sie. „Wenn die Diktatur etwas zerstört hat, dann sind es die sozialen
       Bindungen. Sich mit den Nachbarn zu treffen, miteinander zu reden und
       einander zu vertrauen ist wie eine interne Revolution.“
       
       Bei zwei Dingen sind sich alle einig: Die Regierung soll zurücktreten und
       eine neue Verfassung muss her. Die aktuell in Chile gültige Verfassung
       stammt noch aus der Militärdiktatur. „Wir wollen eine verfassungsgebende
       Versammlung. Und das ist nicht nur eine Forderung, sondern das ist ein
       Prozess, den wir hier im Viertel bereits begonnen haben“, sagt Pablo
       Abufom, ebenfalls einer der Sprecher der Versammlung.
       
       Jeden Abend protestieren die Bewohner im Stadtviertel mit cacerolazos,
       einer Protestaktion, bei der mit Kochtöpfen Lärm gemacht wird. Sie haben
       einen neuen Protestruf erfunden: „Se Siente, Se Siente, Asamblea
       Constituyente!“ – „Man spürt es, man spürt es, die verfassungsgebende
       Versammlung!“
       
       31 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
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