# taz.de -- Proteste in Belarus: Riskante Nachbarschaftshilfe
       
       > Für Putin sind die Proteste in Belarus nicht ganz ungefährlich: Er
       > befürchtet, sie könnten ansteckend sein. Riskiert er ein militärisches
       > Abenteuer?
       
 (IMG) Bild: Gegner des Präsidenten Lukaschenko am Donnerstag, 20. August in Minsk
       
       Als Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten Wladimir
       Putin, sich Mitte dieser Woche zu einem Gespräch mit Journalist*innen
       trifft, ist seine Warnung unüberhörbar. Auf die Frage nach den andauernden
       Protesten gegen den belarussischen [1][Staatschef Alexander Lukaschenko]
       und der Rolle Russlands sagt er: „Das belarussische Volk ist unser
       Brudervolk. Was dort vorgeht, betrachten wir als innere Angelegenheit des
       Landes. In der jetzigen Situation darf es keinen Einfluss und keine
       Einmischung von außen geben. Leider müssen wir feststellen, dass Versuche
       einer unmittelbaren Einmischung stattfinden.“
       
       Da ist es wieder, das Narrativ vom aggressiven Westen, der in den
       ehemaligen Sowjetrepubliken gezielt oppositionelle Kräfte finanziert, es in
       Wahrheit aber auf Russland abgesehen hat, das er zu destabilisieren sucht.
       Die farbigen Revolutionen in Georgien (Rosenrevolution 2003) und der
       Ukraine (Orange Revolution 2004) lassen grüßen.
       
       Belarus ist, als eine Art vorgelagerte Sicherheitszone, für Russland von
       nicht zu unterschätzender geostrategischer Bedeutung. Es grenzt an die drei
       Nato-Mitglieder Litauen, Lettland und Polen, die dem einstigen Verbündeten
       nicht gerade freundlich gesonnen sind. Belarus wäre auch das perfekte
       Sprungbrett auf dem Weg in die russische Exklave Kaliningrad, sollte es zu
       einer ernsthaften Krise kommen.
       
       ## Enge Verbindungen
       
       Einen kleinen Vorgeschmack auf ein derartiges Szenario gab im September
       2017 das siebentägige gemeinsame [2][russisch-belarussische Militärmanöver
       Sapad 17] in Belarus – angeblich zu Übungszwecken und, offiziellen
       russischen und wohl etwas herunter gerechneten Angaben zufolge, mit einer
       Beteiligung von 12.700 Soldaten.
       
       Doch nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich sind beide Staaten
       eng miteinander verbunden. Dabei diktiert Moskau die Preise. Belarus, das
       40 Prozent seiner Waren zollfrei in das Nachbarland exportiert, erhält beim
       Kauf von russischem Gas und Öl Vorzugspreise unter Weltmarktniveau.
       
       Experten beziffern die brüderliche Unterstützung – Russland ist mit einem
       Anteil von 38 Prozent an der Staatsverschuldung auch Minsks größter
       Kreditgeber – jährlich auf 10 Milliarden Euro. 2019 wurde nach einer Reform
       der russischen Steuergesetzgebung für Belarus das Öl teurer. Schätzungen
       zufolge könnten sich die Verluste für den belarussischen Staatshaushalt bis
       2014 auf mehr als 10 Milliarden Euro belaufen.
       
       Ohnehin hält sich die Geberlaune Russlands seit Längerem in Grenzen. Der
       Kreml will endlich eine Gegenleistung in Form einer politischen Dividende
       sehen.
       
       ## Vertiefte Integration
       
       Der Hebel hierfür ist ein Unionsvertrag, den Lukaschenko und der damalige
       russische Präsident Boris Jelzin 1999 unterzeichnet hatten. Der Vertrag
       sieht eine vertiefte Integration beider Staaten vor – mit gemeinsamen
       politischen Institutionen, einer Währung nebst einem Raum für Wirtschaft,
       Transport und Energie sowie eine aufeinander abgestimmte Steuer- und
       Finanzpolitik.
       
       Nach einer kurzen Anfangseuphorie verschwand das ambitionierte Projekt
       jedoch in der Schublade. Spätestens nach der Wahl von Wladimir Putin zum
       Präsidenten 2000 begann es Lukaschenko zu dämmern, dass allenfalls der
       Status eines russischen Provinzgouverneurs in dem neuen Staatswesen auf ihn
       warten würde. Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie der
       Beginn des Krieges in der Ostukraine 2014 führten zu weiteren
       Absetzbewegungen des obersten Belarussen.
       
       Er fürchtete, berechtigterweise, um die Unabhängigkeit und Souveränität
       seines Landes – Attribute, die auch ein Großteil der Belaruss*innen nicht
       mehr missen möchte.
       
       2018 hatte plötzlich Russlands Regierungschef Dmitri Medwedjew dringenden
       Gesprächsbedarf und formulierte ein Ultimatum an den widerborstigen
       Partner: Ohne Union bis Ende 2019 gebe es für Belarus keine
       Wirtschaftshilfe mehr. Dem folgten mehrere Treffen zwischen Putin und
       Lukaschenko, die weder eine Einigung bei Ölpreisen, noch eine Annäherung in
       Sachen Staatenunion brachte.
       
       Doch jetzt, [3][nach fast zweiwöchigen Massenprotesten] in Belarus gegen
       Lukaschenkos angebliche Wiederwahl am 9. August, liegen die Dinge anders.
       Der Dauerherrscher ist angezählt, denkt jedoch nach 26 Jahren gar nicht
       daran in Rente zu gehen und klammert sich verbissen an die Macht.
       
       ## Angst vor Ansteckung
       
       Und Russland? Den Nachbarn in größtmöglicher Abhängigkeit und damit in der
       eigenen Interessensphäre zu halten – mit oder ohne Lukaschenko, hat
       absolute Priorität. Nicht minder wichtig ist es, eine erfolgreiche
       Revolution in einem Land zu verhindern, das Moskau als sein Einflussgebiet
       reklamiert. Denn zu groß ist die Angst, dass dieses Virus, bedrohlicher als
       Corona – auf Russland überspringt.
       
       Wladimir Putin dürfte nicht erfreut gewesen sein, die belarussische Flagge
       in den Händen von [4][Demonstrant*innen im russischen Chaborowsk] zu sehen,
       die mit Protesten die Freilassung ihres Gouverneurs Sergej Furgal erreichen
       wollten. Nicht zuletzt könnten die Russ*innen auch auf die Idee kommen,
       eine Präsidentschaft von Putin auf Lebenszeit zu hinterfragen, die der sich
       mit einer Verfassungsreform und einem anschließenden sogenannten Referendum
       im vergangenen Frühjahr besorgt hat.
       
       Lukaschenko hat sich für den Notfall des militärischen Beistands Russlands
       versichert. Ohnehin besteht die Möglichkeit der militärische Hilfe seitens
       des Bündnisses „Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit“
       (OVKS), an dem neben Russland und Belarus auch noch Armenien, Kasachstan,
       Kirgisien und Tadschikistan beteiligt sind.
       
       Derartigen Gedankenspielen gab sich auch die Chefredakteurin des russischen
       staatlichen Propagandasenders Russia Today, Margarita Simonjan, hin. Sie
       twitterte, es sei Zeit, „höfliche Menschen“ – womit bewaffnete und
       maskierte Angehörige der russischen Streitkräfte, die auf der Krim und in
       der Ostukraine eingesetzt waren, gemeint sind – nach Belarus zu schicken,
       um dort für Ordnung zu sorgen.
       
       Das Risiko für Moskau dabei wäre hoch. Die Mehrheit der Belaruss*innen
       fühlt sich stark mit Russland verbunden. Russische Panzer in Minsk jedoch
       dürften der Zuneigung zum großen Bruder eher abträglich sein und vielleicht
       zu unerwünschten Nebenwirkungen führen. Bislang waren bei den Protesten
       keine Europa-Flaggen auszumachen. Auch an der Heimatfront könnte Putin
       nicht punkten. Angesichts der kostspieligen kriegerischen Abenteuer in
       Syrien, Libyen und der Ukraine dürfte eine derartige Nachbarschaftshilfe
       der einheimischen Bevölkerung kaum zu vermitteln sein.
       
       Bliebe als Alternative eine Intervention der anderen Art: Russland könnte
       versuchen bei der Bestimmung der Nachfolge für Lukaschenko orchestrierend
       einzugreifen. Und da dürfte Moskau fündig werden, denn Russophobie ist von
       keinem der oppositionellen Kandidat*innen bei der Präsidentenwahl
       überliefert. Das gilt insbesondere für Wiktor Babariko, der nicht zu der
       Wahl zugelassen wurde und im Gefängnis sitzt. Babariko war bis Mai dieses
       Jahres Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank, die dem russischen Konzern
       Gazprom gehört.
       
       ## Abwarten?
       
       Last but not least: Warum nicht die weitere Entwicklung abwarten?
       Vielleicht geht den Demonstrant*innen ja die Luft aus? Oder in Belarus
       wiederholt sich das armenische Szenario. 2018 kam in der Südkaususrepublik
       nach wochenlangen Protesten, der „Samtenen Revolution“, Nikol Paschinjan an
       die Macht. An den engen Beziehungen zwischen Moskau und Jerewan hat das
       nichts geändert.
       
       Für den russischen Soziologen Konstantin Gaase sind die
       russisch-belarussischen Beziehungen eine Geschichte von Verrat, Betrug und
       endlosen Klagen, der Schuldige sei eindeutig Lukaschenko. Menschliche
       Sympathien zwischen Lukaschenko und Putin gebe es nicht.
       
       „Ich bezweifle, dass Moskau Lukaschenko einen Hubschrauber schicken wird,
       wie seinerzeit Janukowitsch (ukrainischer Präsident, der 2014 gestürzt
       wurde, Anm. d. Red.), zitiert ihn das russische Nachrichtenportal Meduza.
       „Wenn doch, dann nur, um ihn sofort nach seiner Ankunft in Moskau hinter
       Gitter zu bringen.“
       
       21 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Machthaber-Lukaschenko-in-Belarus/!5702899
 (DIR) [2] /Militaerisches-Grossmanoever-in-Russland/!5447203
 (DIR) [3] /Proteste-in-Belarus/!5708469
 (DIR) [4] /Proteste-im-Fernen-Osten-Russlands/!5699240
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Barbara Oertel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Russland
 (DIR) Belarus
 (DIR) Wladimir Putin
 (DIR) Alexander Lukaschenko
 (DIR) Tadschikistan
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Alexei Nawalny
 (DIR) Russland
 (DIR) Kolumne Der rote Faden
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Krisenherd Belarus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Wahlen in Tadschikistan: Ein fragwürdiger Triumph
       
       In Tadschikistan hat sich der Staatschef mit 91 Prozent im Amt bestätigen
       lassen. Der nicht lupenreine Sieg macht die Nachbarn in Kirgistan neidisch.
       
 (DIR) Opposition in Belarus: Kein Konsens für danach
       
       Die Kritiker*innen von Präsident Alexander Lukaschenko sind sich nur einig,
       dass er wegmuss. Was dann? Vor allem Russlands Rolle ist strittig.
       
 (DIR) Protest gegen Lukaschenko: Wieder Gewalt in Belarus
       
       Bei Demos in Minsk werden auch ausländische Journalisten festgenommen. Die
       Außenminister der EU einigen sich auf Sanktionen.
       
 (DIR) Kirchen und Proteste in Belarus: Dem Regime ist nichts heilig
       
       Nach der Blockade eines Gotteshauses durch Polizisten äußert der Bischof
       harsche Kritik. Die orthodoxe Kirche distanziert sich vom Regime.
       
 (DIR) Verdacht auf Anschlag auf Alexei Nawalny: Russisches Roulette
       
       Woran der russische Oppositionspolitikers erkrankt ist, bleibt mysteriös.
       Hat der Kreml das Drehbuch geschrieben?
       
 (DIR) Russischer Oppositioneller Nawalny: Spuren einer Vergiftung
       
       Befunde der Berliner Charité zeigen, dass der im Koma liegende russische
       Oppositionelle vergiftet wurde. Spätfolgen sind nicht ausgeschlossen.
       
 (DIR) Coronagegner und Grundrechte: Wut und Widerstand
       
       Da sitzen sie, die Coronagegner, mit kindischen „Ferkel-Merkel“-Postern und
       faseln von Diktatur. Mit Blick auf Belarus macht das wütend.
       
 (DIR) Aufbegehren in Belarus: Kein Euromaidan in Minsk
       
       Die Zukunft der Belarussen ist noch nicht absehbar. Einen Vorteil hat das
       Land gegenüber der Ukraine: Es gibt keine Oligarchen, die mitmischen.
       
 (DIR) Proteste in Belarus: Nicht zu blocken
       
       In Belarus sperrt die Regierung immer wieder das Internet. Der Messenger
       Telegram bleibt aber zugänglich – und wird zum Medium des Protests.
       
 (DIR) Kremlkritiker offenbar vergiftet: Nawalny bewusstlos im Krankenhaus
       
       Der russische Oppositionelle Alexei Nawalny liegt auf der Intensivstation
       an einem Beatmungsgerät. Seine Sprecherin geht von einer erneuten
       absichtlichen Vergiftung aus.
       
 (DIR) Machthaber Lukaschenko in Belarus: Der einsame Präsident
       
       „Verschwinde!“, rufen Menschen in Belarus Präsident Lukaschenko zu. Wer ist
       der Mann, der vorgibt, sein Volk zu lieben, es aber niederknüppeln lässt?
       
 (DIR) Videogipfel zu Belarus: EU sucht friedliche Lösung
       
       In Brüssel fürchten viele eine Wiederholung des Debakels in der Ukraine.
       Die EU müsse Belarus helfen, ohne Moskau zu provozieren, heißt es.