# taz.de -- Proteste gegen Rassismus in den USA: Zeit, zurückzuzahlen
       
       > Sie protestieren von New York bis San Francisco. Der Tod von George Floyd
       > hat eine Massenbewegung in Gang gebracht. Doch Trump hetzt weiter.
       
 (IMG) Bild: Es reicht. In Amerika stürmen die Menschen die Straßen, um gegen Rassismus zu demonstrieren
       
       New York taz | „I have a dream“ steht auf dem Transparent, das Juliette
       Blevins an diesem Sonntag durch Manhattan trägt. Als Kleinkind war sie mit
       ihren Eltern dabei, als Martin Luther King auf der Mall in Washington seine
       berühmte Rede hielt – und von seinem Traum von einem Land berichtete, in
       dem Schwarze und Weiße gleiche Rechte haben. Damals schien es, als ginge
       die Zeit des systemischen Rassismus in den USA zu Ende. Aber 57 Jahre
       später demonstriert Blevins, die inzwischen Karriere als Linguistin gemacht
       hat, erneut gegen das Übel, das so alt ist wie die Geschichte ihres Landes.
       Aktueller Anlass ist [1][der Tod des unbewaffneten schwarzen George Floyd]
       unter einem Polizeiknie in Minneapolis.
       
       Die Demonstration beginnt am Südende des Bryant Park. Punkt 5 Uhr am
       Nachmittag kommen mehrere Hundert Menschen an dem Springbrunnen dort
       zusammen. Es ist eine bunt gemischte Menge. Durchschnittsalter unter 30.
       [2][„I can't breathe“] – Ich kann nicht atmen: die letzten Worte von Floyd
       – steht auf Gesichtsmasken und auf Transparenten. Außerdem ist zu lesen:
       „Sagt seinen Namen“ und: „Randale ist die Sprache der Stimmlosen“ –
       ebenfalls ein Zitat von „MLK“.
       
       Die Versammelten haben ihren Treffpunkt auf den sozialen Medien
       veröffentlicht. Sie beginnen mit einem Schweigemoment, bei dem sie mit
       erhobenen Fäusten niederknien. Als sie sich wieder erheben, ruft jemand aus
       der Menge die Namen der schwarzen Frauen und Männer auf, die zuletzt von
       Polizisten getötet worden sind. Die anderen wiederholen die Namen. Es ist
       eine radikal verkürzte Opferliste. Trotzdem dauert die Aufzählung Minuten
       lang.
       
       Blevins und die anderen weißen DemonstrantInnen im Bryant Park sind
       überzeugt, dass [3][der Rassismus in ihrem Land] erst enden wird, wenn sich
       auch weiße AmerikanerInnen dagegen stemmen. Sie ist mit ihrer erwachsenen
       Tochter Rebecca gekommen. Die beiden Frauen haben das Risiko abgewogen und
       sind schnell zu dem Ergebnis gekommen, dass sie ihr „weißes Privileg“
       nützen müssen, um den Rassismus zu bekämpfen. Rebecca Blevins erzählt von
       schwarzen Freunde, die erschöpft vom alltäglichen Rassismus sind. Sie will
       sie nicht allein lassen.
       
       [4][New York ist weiterhin ein Schwerpunkt der Covid-19-Pandemie], das
       Ansteckungsrisiko ist trotz der abflachenden Kurve an Neuinfektionen groß.
       Während sich die Straßen der Stadt allmählich wieder mit Menschen füllen,
       denken viele zugleich an das Abebben der ersten Welle der Spanischen Grippe
       im Spätherbst 1918, vor mehr als einhundert Jahren. Im November 1918 waren
       die New Yorker erstmals wieder zuhauf auf die Straße gekommen, um das Ende
       des Ersten Weltkriegs zu feiern. Die Feste, bei denen sich die Menschen
       wieder nahe kamen, miteinander tanzten, waren das Einfallstor für die
       zweite, viel tödlichere Welle der Spanischen Grippe.
       
       Im Bryant Park tragen an diesem Sonntag die meisten DemonstrantInnen
       Gesichtsmasken. Und sie halten den gebührenden Sicherheitsabstand. Im
       Verhältnis zu den vielen anderen Dingen, die sie von dem US-Präsidenten
       unterscheiden, sind das Kleinigkeiten. Seit George Floyds Tod suchen die
       Oppositionellen nach Auswegen aus der Endlosspirale von polizeilicher
       Gewalt. Sie wagen sich auf die Straße und in Ansteckungsgefahr. Sie fordern
       Lösungen für Minneapolis – darunter die Entlassungen und Anklagen von allen
       vier verwickelten Polizisten – und sie entwickeln Vorschläge für eine
       Polizeireform.
       
       Ihr Präsident hingegen flüchtet sich am Freitag, als Proteste vor dem
       Weißen Haus stattfinden, in einen unterirdischen Bunker. An den meisten
       anderen Tagen hetzt und polemisiert er und spaltet das Land. Seit dem Tod
       von George Floyd hat er Bürgermeister, die nach Verständigung suchen, als
       „Versager“ beschimpft. Hat DemonstrantInnen, die Gerechtigkeit verlangen,
       „Schläger“ genannt. Hat die Medien beschuldigt, „Hass und Anarchie“ zu
       verbreiten. [5][Und Donald Trump hat seine Anhänger zur Gewalt ermuntert].
       An diesem Sonntag erreicht er die nächste Eskalationsstufe. Per Tweet
       kündigt er an, dass er die Antifa, deren Allgegenwart er bei gewalttätigen
       Protesten herbeifantasiert, zu einer „terroristischen Vereinigung“ erklären
       wird.
       
       In den sieben Tagen seit dem Tod von George Floyd haben sich die Proteste
       wie ein Lauffeuer von kleinen Demonstrationen am Tatort in Minneapolis auf
       mehr als 75 Städte im Land ausgeweitet. Sie werden täglich größer. Tagsüber
       ziehen Menschen mit Transparenten durch die Städte. Nachts finden oft an
       denselben Orten Krawalle statt. Autos und Geschäfte und mindestens eine
       Polizeiwache sind in Flammen aufgegangen.
       
       Doch es gibt nicht nur diese Bilder. In Louisville, Kentucky, wo die
       Polizei vor wenigen Wochen die schwarze Breonna Taylor in ihrer Wohnung
       erschossen hat, haken sich weiße Frauen unter, um eine Schutzwand zwischen
       Polizei und DemonstrantInnen zu bilden. In Camden, einem schwarzen Vorort
       von Philadelphia, laufen Polizisten in Uniform in der Demonstration mit und
       rufen Slogans gegen Polizeigewalt. In Baltimore liest ein weißer Polizist
       die Namen der von Kollegen getöteten schwarzen Menschen vor. In Florida
       gehen Polizisten zusammen mit den DemonstrantInnen auf die Knie, um das
       Andenken der Toten zu ehren. So entstehen neue Allianzen.
       
       Auch in New York gibt es eine Handvoll mutiger Polizisten, die eine solche
       Geste wagen. Aber bei Demonstrationen in den Bezirken Queens und Manhattan
       knien nur jeweils drei und vier Uniformierte. Sie bekommen lang anhaltenden
       Beifall.
       
       Während viele auf der Straße versuchen, den Konflikt zu lösen, zu trösten,
       zu vermitteln und zu heilen, liegen solche Gesten dem Präsidenten in
       Washington fern. Trump nutzt auch diese Krise, um seine Basis zu umwerben,
       um Wahlkampf zu machen und um seine Gegner wie auf einem Schulhof
       anzurüpeln. Am Sonntag beginnt er einen Tweet mit dem Ruf nach „Recht und
       Ordnung“, wobei er ausschließlich Großbuchstaben verwendet, und nennt
       seinen demokratischen Herausforderer Biden „schläfriger Joe“. Für seine
       schwarzen Landsleute, bei denen sich der Schmerz über das Polizistenknie
       auf dem Nacken eines wehrlosen schwarzen Mannes mit den Sorgen über die
       heraufziehende Rezession mischt, die die ohnehin Benachteiligten am
       härtesten trifft, zeigt der Präsident bisher keinerlei Mitgefühl.
       
       „Geld für Schulen und Krankenhäuser statt für die Polizei“ hat die
       27-jährige Isabella auf ihr Transparent geschrieben. Sie will die
       öffentlichen Gelder umlenken. Und sie macht in ihrem eigenen Leben die
       Erfahrung, dass sie umso einsamer ist, je weiter sie auf der sozialen
       Leiter aufsteigt. „Da ist kaum noch jemand, die so aussieht wie ich“, sagt
       die Verhaltenstherapeutin, die auch als Mannequin arbeitet. Für die große
       Mehrheit der schwarzen Menschen in den USA gilt, dass alle Probleme sie
       härter treffen als die weiße Bevölkerung. „Wir sind diejenigen, die in der
       Pandemie die harte Arbeit machen, die uns der Ansteckungsgefahr aussetzt“,
       sagt Isabella, „und wir sind diejenigen, die krank werden, unsere Arbeit
       verlieren und sterben.“ 23 Prozent der Todesopfer der Pandemie sind
       Schwarze, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur 13 Prozent beträgt.
       
       Viele der Protestierenden, die vom Bryant Park aus durch die Straßen von
       Manhattan ziehen, waren schon zuvor demonstrierend in New York unterwegs.
       Erst 24 Stunden zuvor haben sie den Hudson Parkway lahmgelegt, die
       Schnellstraße, die aus dem Norden entlang dem Hudson-Fluss in die Stadt
       führt. Die Demonstration auf der zentralen Verkehrsader ist ein
       Überraschungscoup. Als die DemonstrantInnen mittags an der 125. Straße Ecke
       Adam Clayton Powell Boulevard in Harlem zusammenkommen, weiß noch kaum
       jemand, wohin die Route gehen würde. Sieben Blocks später, als sie am
       Flussufer angekommen sind und den Verkehr zum Erliegen bringen, ist die
       Menge um 1.000 Menschen angeschwollen. Auf ihren Transparenten fordern sie
       auf Englisch und Spanisch das Ende des Rassismus. Jemand schwenkte eine
       mexikanische Fahne zwischen den Autos im Stau. Sie fühlten sich getragen
       von dem Hupen und den erhobenen Daumen der AutofahrerInnen.
       
       Als die Polizei eine Meile weiter südlich Drohgebärden auf der
       Schnellstraße einnimmt, weichen die DemonstrantInnen ins Stadtinnere aus
       und ziehen in den Süden von Manhattan.
       
       An diesem Sonntag versperrt die Polizei auf der 5th Avenue kurz vor dem
       Trumptower den weiteren Weg. Die DemonstrantInnen biegen in Richtung Osten
       ab. Rund um den Trump-Tower hämmert es. Die Besitzer der Luxusläden für
       Uhren, Schmuck und Kleidung lassen ihre Schaufenster vernageln. Offenbar
       rechnen sie mit Plünderungen, wie es sie in der Vornacht bei
       Demonstrationen weiter südlich in Manhattan und Brooklyn gegeben hat.
       
       Paul ist am Samstag und am Sonntag dabei. Der New Yorker Stadtplaner hat
       auf sein Transparent geschrieben: „Pigs go home“ – Schweine, geht nach
       Hause. Für ihn ist es nicht mit Verfahren gegen einzelne „Killer-Cops“
       getan. Er macht das ganze System für die Tötungen verantwortlich. Er will
       Tausende von Strafverfolgungsbehörden im Land abschaffen. Er versteht es
       als seine „moralische Verpflichtung“, die Geschichte des Rassismus zu
       verstehen. „Als weißer Mann muss ich zurückzahlen“, sagt der 32-Jährige.
       
       Die Abschaffung der Polizei ist auch bei afroamerikanischen
       Bürgerrechtsgruppen in der Diskussion. Auch in Minneapolis verlangen junge
       AktivistInnen danach. Die Menschen sind mit der alten rassistischen Gewalt,
       aber mit anderen Slogans und politischen Methoden groß geworden als jene,
       die in den 1960er Jahren mit Martin Luther King demonstriert haben. Die
       schwarzen Kirchen spielen für die Jungen nicht mehr so eine zentrale Rolle.
       Auch gegenüber der Demokratischen Partei ist ihre Distanz größer. Als sie
       erwachsen wurden, hatte ihr Land einen schwarzen Präsidenten. Aber die
       Polizeigewalt und die sozialen Diskriminierungen gingen weiter.
       
       Benjamin kennt beide Welten von innen. Er ist bei seiner jüdischen Mutter
       in New York aufgewachsen. Sein Vater ist ein schwarzer Jamaikaner.
       Benjamin, heute ein Tennis-Coach auf der Upper West Side, war in einer
       Privatschule, seine Freunde waren weiße Kinder aus anderen wohlhabenden
       Familien. Aber in den Augen der Polizei ist er ein Schwarzer. „Ich kann
       lustige Geschichten über Rassismus erzählen“, sagt er. Im Alter von 14 wird
       er von Polizisten angehalten, als er mit seiner Mutter spazieren geht. Sie
       behaupten, der Junge sei ein Dealer und weigern sich, zu glauben, dass er
       mit seiner Mutter verwandt ist. Mit 18 gerät Benjamin in einem Auto, in dem
       er mit drei weißen Freunden unterwegs ist, in eine Polizeikontrolle. Alle
       vier jungen Männer haben Dope dabei, aber er ist der einzige, der
       festgenommen wird.
       
       „Irgendwann reicht es einfach“, sagt die schwarze junge Frau, die an diesem
       Sonntag ganz in Schwarz zu der Demonstration gekommen ist – von der
       Kopfbedeckung über die Brille und den Mundschutz bis zu ihrer Kleidung. Es
       ist die erste Demonstration ihres Lebens. Sie will sich noch nicht mit
       ihrem Namen in die Öffentlichkeit wagen. Aber sie zeigt stolz ein schwarzes
       Transparent, das fast so groß ist wie sie selbst. In weißen Buchstaben hat
       sie darauf geschrieben hat: „Rassismus ist so amerikanisch, dass die Leute
       denken, dass du gegen Amerika bist, wenn du gegen den Rassismus
       protestierst.“
       
       1 Jun 2020
       
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