# taz.de -- Proteste gegen Polizeigewalt: Achtung, Anarchisten!
       
       > Donald Trump wütet gegen die Protestbewegung in seinem Land, diffamiert
       > sie als anarchistisch. Er hat keine Ahnung, wovon er redet.
       
 (IMG) Bild: Übertretungen des Widerstands wie hier in Minneapolis werden mit der Lupe betrachtet
       
       ANARCHISTS!“, schimpfte [1][Donald Trump] auf Twitter, kaum waren die
       Proteste gegen den Mord an George Floyd ausgebrochen. Es ist verwunderlich,
       dass der Präsident so genau über die politischen Überzeugungen der
       überwiegend Mund-und-Nasen-Schutz tragenden Demonstranten Bescheid wusste
       (was für eine Ironie, dass quasi über Nacht das Vermummungsverbot in ein
       Maskierungsgebot umgewandelt wurde). Es verwundert aber nicht, dass er just
       diesen Begriff verwendete. Seit je wird der Anarchismus, angeblich ein
       weltfremder Unsinn, auf diese und ähnliche Weise diffamiert, um sich nicht
       ernsthaft mit einer wichtigen politischen Weltanschauung beschäftigen zu
       müssen. In mediengängigen Formulierungen wie etwa: „In Somalia herrscht
       Anarchie.“
       
       Genauer besehen ergeben solche Zuschreibungen wenig Sinn. [2][Anarchie
       bedeutet im Griechischen „ohne Herrschaft“], doch die derart bezeichneten
       Verhältnisse leiden meist nicht an zu wenig, sondern an zu viel Herrschaft.
       In Somalia etwa an der Allmacht der Warlords und der fanatischen
       Al-Shabaab-Sekte. Wenn also von „Anarchisten“ gesprochen wird, die auf
       nächtlichen Straßen „wüten“, ist vielmehr beabsichtigt, diese Menschen als
       gesetzlose Vandalen abzutun. Als Barbaren also. Als Feinde der
       Zivilisation, die bekämpft oder gar vernichtet werden müssen. Jene, die um
       ihre Rechte kämpfen, werden nach althergebrachten Mustern entrechtet, was
       ihren Protest erst recht rechtfertigt.
       
       Präsident Trump dürfte sich mit Anarchismus genau so wenig beschäftigt
       haben wie mit Sozialismus oder Liberalismus. Hätte er auch nur einige
       Seiten von, sagen wir, Michail Bakunin oder Emma Goldman, Erich Mühsam oder
       Murray Bookchin gelesen, wäre er erstaunt, dass Anarchismus nicht die
       Plünderung eines Foot-Locker-Ladens (schicke Sneakers!) bedeutet, sondern
       das Streben nach größtmöglichem Gemeinwohl bei größtmöglicher individueller
       Freiheit. Also das Gegenteil von neoliberaler Ausbeutung und polizeilicher
       Willkür.
       
       Gewiss, es gibt auch im Anarchismus viele Strömungen, aber eines haben sie
       doch gemein: Solidarität als gesellschaftliches Grundprinzip, nicht
       Konkurrenz und Rivalität. Anders formuliert: Denkt man die Losungen der
       Französischen Revolution sowie die Allgemeinen Menschenrechte logisch zu
       Ende, landet man beim Anarchismus, nicht bei Donald Trump oder einer
       Polizei, die BürgerInnen umbringt. Letzteres verstößt natürlich gegen das
       Recht, nicht nur das national kodifizierte, sondern das universell humane.
       Die Rechtlosen sind somit nicht die als gesetzlos beschimpften
       Protestierenden, sondern jene, die andere Menschen misshandeln, foltern
       oder gar töten.
       
       ## Paramilitärisch ausgerüstete Sicherheitskräfte
       
       Wäre dies ein Einzelfall, könnte man die jetzige Rebellion als übertriebene
       Reaktion erachten. Aber es handelt sich nicht um eine Ausnahme, sondern um
       eine weitere unter vielen individuellen Tragödien. Im Jahr 2016 wurden in
       den USA 1.093 Menschen von der Polizei getötet (vergangenes Jahr 1.042).
       Der Guardian machte sich vor einigen Jahren die Mühe, diese Fälle zu
       dokumentieren ([3][zu finden unter „The Counted“]), und die Lektüre der
       kurzen Nachrufe ist herzzerreißend. Die Opfer sind psychisch kranke Nackte,
       traumatisierte Veteranen, gläubige Rentner, deren Kruzifix als Waffe
       angesehen wurde, wegen einer Bagatelle Verhaftete, die getasert wurden und
       keine medizinische Betreuung erhielten, fälschlich Beschuldigte.
       
       AnarchistInnen sind der festen Überzeugung, dass es bessere Formen des
       sozialen Miteinanders gibt als das Aufmarschieren paramilitärisch
       ausgerüsteter Sicherheitskräfte, die zuschlagen oder schießen, bevor sie
       Fragen stellen. Insofern hat [4][Präsident Donald Trump] doch recht, wenn
       er von „Anarchisten“ spricht: Die vielen Menschen auf den Straßen,
       inzwischen nicht nur in den USA, verlangen eine bessere Welt, und wie ernst
       es ihnen damit ist, beweist die Tatsache, dass sie sich in Zeiten der
       Pandemie einer doppelten Gefahr aussetzen.
       
       Machtlegitimierung basiert oft auf absurden Rechtfertigungen, weswegen ein
       US-Senator wie Tom Cotton mit dem Spruch „Null Toleranz gegenüber Gewalt“
       ein hartes Vorgehen von Polizei und sogar Armee fordern kann, obwohl sich
       die Proteste gerade gegen die systematische Tolerierung staatlicher Gewalt
       richten. Ob es sich nun hierbei um zweierlei Maß oder hochamtliche
       Heuchelei handelt, der anarchistisch geschulte Blick gehört zu den
       schärfsten Instrumenten, solche verlogene Rhetorik der Macht zu entlarven.
       
       Nicht zum ersten Mal löst ein gewalttätiges Eingreifen der Polizei
       Gegengewalt aus, die wiederum ein gewalttätiges Eingreifen der Polizei
       hervorruft. Ein Teufelskreislauf. Die Opfer sind dieses Mal übrigens auch
       viele JournalistInnen, die teilweise absichtlich mit Pfefferspray besprüht
       oder mit Gummikugeln beschossen wurden. Kein Wunder, gelten sie doch
       neuerdings wieder als „Volksfeinde“.
       
       ## Zorn der Entrechteten
       
       Die Feministin und Aktivistin Tamika Mallory zerfetzte letzte Woche in
       einer wütenden, im Internet weit verbreiteten Rede einen eklatanten
       Widerspruch: Verfechter einer Wirtschaftsweise, die massenhaft Menschen
       sowie den Planeten ausplündert, empören sich geradezu hysterisch, wenn die
       Entrechteten in ihrem seit Jahren und Jahrhunderten aufgeladenen Zorn
       einige Geschäfte plündern. Im Original: „Looting is what you do. We learned
       it from you.“ Sie steht damit in der kritischen Tradition, immer wieder
       darauf hinzuweisen, dass die Verbrechen des herrschenden Status quo mit
       verschlossenen Augen, die Übertretungen des Widerstands hingegen mit der
       Lupe betrachtet werden.
       
       Wenn also jemand wie Donald Trump Protestierende als Anarchisten
       beschimpft, sollten all jene, die sich eine gerechtere Welt wünschen,
       lautstark erwidern: Ja, wir sind Anarchisten. Und das ist gut so.
       
       10 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Facebooks-Umgang-mit-Trump/!5686531
 (DIR) [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Anarchie
 (DIR) [3] https://www.theguardian.com/us-news/series/counted-us-police-killings
 (DIR) [4] /Berichterstattung-durch-Polizei-behindert/!5686168
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilija Trojanow
       
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