# taz.de -- Neuer Ansatz in der Gesundheitspolitik: Die besonders Verwundbaren im Blick
       
       > Die vor vier Jahren in den Bremer Senat gewählte Linke Claudia Bernhard
       > lernte in der Pandemie, den Spielraum von Gesundheitspolitik auszuweiten.
       
 (IMG) Bild: Hat in der Pandemie einen guten Blick bewiesen: Claudia Bernhard
       
       Bremen taz | Ohne die Pandemie hätte Claudia Bernhard ihre Amtszeit als
       [1][erste linke Bremer Gesundheitssenatorin] so verbracht wie ihre
       Vorgänger:innen der letzten 30 Jahre. Sie hätte erfolglos nach einer
       Lösung für die defizitären kommunalen Kliniken gesucht und ansonsten mal
       hier, mal da ein Modell-Projekt eröffnet. Das hätte daran gelegen, dass der
       Gestaltungsspielraum in keinem anderen Politikfeld so klein ist wie in
       Gesundheitsfragen.
       
       Zwar ist der Staat verpflichtet, für die Gesundheit seiner Bürger:innen
       zu sorgen, hat aber die Entscheidungen darüber, wie das geschieht, in die
       Hände der gesetzlichen Krankenversicherungen und Ärztevertreter:innen
       gelegt. Selbst heilen darf der Staat anders als in Skandinavien oder
       Großbritannien mit wenigen Ausnahmen nicht.
       
       Deshalb versprechen zwar Bildungssenatorinnen vor Wahlen gute Schulen,
       Innensenatoren mehr Sicherheit und Umweltsenatorinnen alles mögliche, aber
       Gesundheitssenatorinnen und ihre Kolleg:innen in anderen Bundesländern
       schweigen. Das geht, weil sich die Bürger:innen daran gewöhnt haben,
       dass die Politik hier wenig Einfluss hat oder daran scheitert, sich
       zwischen den Interessen der zahlreichen Akteur:innen im Gesundheitswesen
       durchzusetzen. Sonst stünde sicher einiges auf einer Wunschliste, etwa dass
       jede:r zeitnah die Behandlung bekommt, die er oder sie braucht und alle
       würdevoll gebären können.
       
       Und dann kam die Pandemie, etwa ein halbes Jahr nach Claudia Bernhards
       Vereidigung als Gesundheitssenatorin im ersten rot-rot-grünen Senat der
       Hansestadt Bremen – die erste seit 1959, die nicht der SPD angehört. Wie
       wenige andere Bundesländer hatte Bremen sich der Aufgabe verschrieben,
       möglichst alle Einwohner:innen des Stadtstaates [2][gegen das
       Coronavirus zu impfen]. Die Impfungen begannen wie überall Ende Dezember
       2020. Im März 2021 wurde ein in seinen Kapazitäten überdimensioniertes
       Impfzentrum in Betrieb genommen.
       
       ## Medizinische Versorgungszentren geplant
       
       Keine zwei Monate später, als der Impfstoff noch knapp war, begann Bremen
       mit Impfaktionen in benachteiligten Stadtteilen – in denselben, in denen
       Gesundheitsfachkräfte über Infektionsrisiken aufklärten. Diese hatte die
       Gesundheitssenatorin initiiert, weil sie schon seit der ersten Welle im
       Sommer 2020 Daten über die überdurchschnittlich hohen Infektionsraten in
       diesen Stadtteilen hatte. Nach dem Pandemie-Ende sind 18 von ihnen immer
       noch in 14 Quartieren in Bremen und Bremerhaven als Streetworker:innen
       unterwegs.
       
       Bremen hat in der Pandemie viel Geld ausgegeben – und war erfolgreich. Die
       Coronasterberate ist eine der niedrigsten, die Impfquote eine der höchsten.
       Diese Erfahrungen hätten ihr und ihren Mitarbeiter:innen das Gefühl
       gegeben „da muss doch was gehen“. Das sagt Claudia Bernhard Ende Februar
       2023 während einer Podiumsdiskussion zum Thema „Gesundheitsversorgung unter
       Druck – welchen Weg geht Bremen?“. Es ist der zweite Teil einer
       Veranstaltungstrilogie. An diesem Abend ist der Bielefelder Professor
       Thomas Gerlinger zu Gast. Er spricht über die Probleme des
       Gesundheitssystems, den Fachkräftemangel, das Nebeneinander von ambulanter
       und stationärer Versorgung. Alle im voll besetzten Saal wissen, was das im
       Alltag bedeutet: volle Wartezimmer, keine Termine.
       
       Sie fragen, wie das möglich sein kann in einem reichen Land, das so viele
       Mediziner:innen ausbildet und hören von der Senatorin und dem
       Professor, was sie bereits wissen: dass nur wenige Hausarzt oder Hausärztin
       werden wollen und die sich am liebsten in einem Stadtteil oder einer Region
       niederlassen, in der sie sich mit ihren Patient:innen auch auf Deutsch
       gut verständigen können und deren Probleme nicht so erdrückend sind, dass
       sie sehr viel mehr brauchen als eine Diagnose und einen Behandlungsplan.
       
       „Die Selbstverwaltung ist an ihre Grenzen geraten“, sagt Claudia Bernhard
       während der Podiumsdiskussion – und meint: Der Staat muss eingreifen;
       Kassen und Ärzt:innen bekommen es nicht mehr hin, die Versorgung sicher zu
       stellen. Das sieht sie auch an anderer Stelle. Kein Bundesland versucht so
       offensiv wie Bremen, die Versorgungslücken beim Schwangerschaftsabbruch zu
       stopfen. Zu diesem Zweck betätigt sich das Land sogar in der ärztlichen
       Fortbildung.
       
       Als Linke hat Claudia Bernhard ein besonderes Augenmerk auf die Situation
       in den armen Quartieren am Rand der Stadt, zum Beispiel in Tenever, einem
       der kinderreichsten Ortsteile Bremens, in dem es keinen einzigen Kinderarzt
       oder -ärztin gibt, wie eine Frau im Publikum empört anmerkt. Laut
       statistischem Landesamt leben dort 2.541 Minderjährige. Im reichen
       Schwachhausen sind es etwas mehr als doppelt so viele. Die kassenärztliche
       Vereinigung listet für diesen Stadtteil 19 Kinder- und Jugendärzt:innen.
       Diese ungleiche Verteilung gibt es in ganz Deutschland. Bekannt ist auch
       die Unterversorgung von ländlichen Regionen mit geringer
       Bevölkerungsdichte.
       
       Der Bielefelder Professor bestätigt die Bremer Gesundheitssenatorin in
       ihrem Vorhaben, sich in etwas einzumischen, was Kassen und Ärzt:innen
       bislang unter sich ausmachen. Deshalb hat sie ihn eingeladen. Zwar könne
       Bremen die Probleme nicht alleine lösen, dafür seien einige sehr
       grundlegende Gesetzesänderungen auf Bundesebene nötig, sagt er. Aber er
       ermutigt sie zur Gründung medizinischer Versorgungszentren in kommunaler
       Trägerschaft, was seit 2015 möglich ist. Zuvor mussten diese ärztlich
       geleitet werden. Die Zentren können Haus- und Fachärzt:innen unter einem
       Dach anstellen, was für diese den Vorteil hat, sich nicht selbstständig
       machen zu müssen und besser in Teilzeit arbeiten zu können.
       
       Claudia Bernhard sagt, dass ihr Ressort an der Umsetzung eines solchen
       Zentrums arbeite, aber auch, wie schwierig es vor allem sei, die
       Finanzierung zu klären, wie viel die Kommune trage, wie viel die Kassen.
       „Das ist ein steiniger Weg.“ Auch die Rechtsfragen seien kompliziert. Das
       habe sich gezeigt, als Bremen Anfang des Jahres für zehn Wochen eine
       Kinderambulanz unterhalten hat, um die Kinderärzt:innen kurzfristig zu
       entlasten. „Die war im Grunde rechtswidrig“, sagt die Senatorin.
       
       Das Wahlprogramm der Linken für die Bürgerschaftswahl am 14. Mai verspricht
       sogar noch mehr. Danach sollen Bürger:innen in „von Armut betroffenen
       Stadtteilen“ in „Gesundheits- und Sorgezentren in öffentlicher Hand“ nicht
       nur auf Ärzt:innen treffen, „die mit ihnen auf Augenhöhe arbeiten“,
       sondern auch noch auf „Pflegepersonal, Sozialarbeiter:innen, Hebammen sowie
       vielfältiges Beratungs- und Betreuungspersonal“.
       
       ## Ein Vorbild aus Berlin
       
       Vorbild dafür ist das [3][Berliner „Gesundheitskollektiv Neukölln“], das
       eine der dort tätigen Ärzt:innen im dritten Teil der
       Veranstaltungstrilogie Anfang März vorstellte. Dieses ist allerdings kein
       medizinisches Versorgungszentrum, sondern wird von einem privaten Verein
       getragen, der nicht Träger einer medizinischen Einrichtung sein darf.
       Deshalb sind die Ärzt:innen dort selbstständig tätig – unfreiwillig, wie
       die Berlinerin sagt.
       
       Was die Berliner Ärztin erzählt, klingt nahezu paradiesisch. Jemand kommt
       mit mehr als körperlichen Problemen in die Praxis und die Ärztin, die das
       erkannt hat, kann die Person nach nebenan in die Sozialberatung oder zur
       Psychologin schicken. Im Erdgeschoss sorgt ein Café dafür, dass die Leute
       sich ins Haus trauen. Es gibt Bewegungsangebote, Mitarbeiter:innen
       machen aufsuchende Arbeit, geben Kurse. Natürlich reicht das Angebot nicht
       aus, aber die Ärztin erzählt von Menschen, denen sonst wahrscheinlich gar
       nicht geholfen worden wäre.
       
       In Bremen gibt es nur Ansätze davon, engagierte Vereine und Verbände, von
       denen Claudia Bernhard einige bereits als Oppositionspolitikerin in der
       Bürgerschaft unterstützt hat, [4][wie die fünf Hebammenzentren], von denen
       bisher zwei eröffnet wurden. Sie sollen in benachteiligten Stadtteilen die
       Wochenbettversorgung verbessern, kämpfen aber damit, dass sie keine
       Hebammen finden. Denn Bremen will nicht anstelle der Krankenkassen die
       Hebammen für ihre Arbeit bezahlen. Deshalb müssen sie freiberuflich tätig
       sein, was viele abschreckt.
       
       ## Medizinische Berufsgruppen jenseits der Ärzt:innen stärken
       
       Im ehemaligen Werftenquartier Gröpelingen ist eine Idee des seit langem
       bestehenden Gesundheitstreffpunkts West aufgegriffen worden: Dort wurde
       jetzt das Liga-Gesundheitszentrum eröffnet, das Modell sein soll für
       weitere solcher Zentren – irgendwann auch mit Ärzt:innen – die wiederum
       in „Gesundheitspunkten“ vorbereitet werden. Im April wurden zwei von ihnen
       eröffnet, in Huchting und in Grohn. In ihnen berät jeweils eine
       Pflegefachkraft mit Zusatzausbildung zu gesundheitlichen Fragen.
       
       Denn auch das ist der Feministin Claudia Bernhard ein Anliegen: Die in
       Deutschland gewachsene Arztzentrierung aufzuweichen und andere medizinische
       Berufsgruppen – in denen größtenteils Frauen arbeiten – zu stärken. Diese
       seien in vielen anderen europäischen Ländern die erste Anlaufstelle für
       gesundheitsbezogene Anliegen, hatte Gerlinger in seinem Vortrag erinnert.
       
       Natürlich gefällt nicht allen in Bremen Claudia Bernhards Politik – wobei
       dabei nicht nur die Inhalte, sondern auch der Stil eine Rolle spielen
       dürften. „Warum redet sie nicht mit uns?“, fragt Hans-Michael Mühlenfeld,
       bis vergangene Woche Vorsitzender des Bremer Hausärzteverbandes. Mehrfach
       habe er erfolglos um einen Termin gebeten und irgendwann aufgegeben,
       erstmals während der Pandemie, als es um die Impfstrategie ging. Erst ab
       April 2021 konnten auch Praxen gegen das Coronavirus impfen – wenn der noch
       knappe Impfstoff lieferbar war. Hans-Michael Mühlenfeld kritisierte damals,
       dies gehe zu Lasten der Alten und Schwachen, die es nicht ins Impfzentrum
       in die Innenstadt schafften oder zu lange auf Termine dort warten mussten.
       
       ## Ärzte kritisieren „Parallelstrukturen“
       
       Jetzt findet er – wie zuvor schon der Verband der Kinderärzt:innen –
       Claudia Bernhard würde mit den geplanten medizinischen Versorgungszentren
       „Parallelstrukturen“ aufbauen. Er lässt kaum ein gutes Haar an ihrer
       Arbeit. Manche Kritik ist überzogen oder unsachlich, etwa wenn er schimpft,
       die Praxen hätten günstiger impfen können als das teure Impfzentrum. Dabei
       hatten die Praxen gar nicht die Kapazitäten, so viele Menschen gleichzeitig
       zu impfen. Viele brachte die Pandemie weit über die Belastungsgrenze
       hinaus. Dennoch wird nach einem Besuch in seiner Praxis im Stadtteil
       Woltmershausen klar: Im Grunde haben er und die Senatorin sehr ähnliche
       Interessen: Beide wollen die gesundheitliche Versorgung von Menschen
       verbessern, die besonders vulnerabel sind.
       
       Denn Hans-Michael Mühlenfeld ist gerne Hausarzt in einem Stadtteil, in dem
       drei Viertel seiner Patient:innen mit mehr Problemen kommen als
       körperlichen Beschwerden, wie er sagt. „Die haben Geldprobleme,
       Partnerschaftskonflikte, das ist ihre Realität“, sagt er. Er wünscht sich
       für sie eine gute Unterstützung in all ihren Belangen.
       
       Auf der Veranstaltung, bei der das multiprofessionelle Berliner
       Gesundheitszentrum vorgestellt wurde, war er nicht, aber ihm gefällt das
       Konzept. „Hier wäre Platz für eine Sozialberatung“, sagt er und breitet die
       Arme aus. Das oberste Geschoss mit dem großzügig geschnittenen
       Besprechungsraum im Ärztehaus hat er bisher für seine Verbandsarbeit
       genutzt.
       
       ## Zur Not halt ohne Ärzt:innen
       
       Statt an anderer Stelle etwas Neues aus dem Boden zu stampfen, wäre es
       besser, vorhandene Strukturen zu nutzen, sagt er. Dahinter steckt auch
       seine Überzeugung, dass Hausärzt:innen am besten geeignet sind, den
       Überblick über die Belange einer Person zu haben und das koordinieren zu
       können. „Wer soll das denn sonst machen, wenn nicht wir?“, fragt er. Diese
       Äußerung zeigt, für wie selbstverständlich die Arztzentrierung genommen
       wird. Aber ohne Zweifel hat er einen Vorteil gegenüber einer bei der
       Kommune angestellten Pflegekraft oder Beraterin: Die Patient:innen
       vertrauen sich ihm an, ohne Angst, „beim Amt“ verpetzt zu werden. Das mag
       vor allem für Menschen mit Diktaturerfahrung eine Rolle spielen.
       
       Der Sprecher von Claudia Bernhard sagt, sie würde mit der Kassenärztlichen
       Vereinigung reden, weil diese für alle Kassenärzt:innen sprechen könne und
       nicht nur für die im Hausärzteverband organisierten. Allerdings ist diese
       viel weiter weg vom Praxis-Alltag als jemand wie Hans-Michael Mühlenfeld –
       und steht unter Aufsicht der Gesundheitssenatorin.
       
       Doch auch die Kassenärztliche Vereinigung weist auf ein grundsätzliches
       Problem hin: Den Ärztemangel. Woher, so fragt deren Sprecher, sollen die
       Ärzt:innen für das medizinische Versorgungszentrum kommen? Ob sie nicht
       an anderer Stelle fehlen würden, in Bremen oder sonst wo? Dafür hat auch
       Claudia Bernhard keine Patentlösung, wie sie bei der Podiumsdiskussion im
       Februar einräumt: „Ich habe keine Ärzt:innen in der Tasche.“ Zur Not macht
       sie es erst mal ohne.
       
       10 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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