# taz.de -- Bremen vor der Wahl: Angenehm unambitioniert
       
       > Am Sonntag wählt Bremen seine Bürgerschaft neu. Große Ambitionen sind
       > selten und genau das passt zur SPD: Wenig läuft super, es ginge aber auch
       > schlechter.
       
 (IMG) Bild: Eben mal die Fähre nehmen? Ach, vielleicht doch lieber verweilen
       
       Nur ein Wort braucht der Freund, um Bremen zu charakterisieren.
       „Unambitioniert“ seien die Stadt und ihre Bewohner:innen, sagt er, durchs
       Telefon höre ich Gelächter. Er sitzt im Bus auf dem Rollfeld eines
       Großstadt-Flughafens, auf dem Weg zurück von einem Meeting nach Bremen.
       Seine Mitreisenden hätten ihm zugestimmt, sagt er. Aber vielleicht seien
       Menschen auf Inlandsflügen nicht repräsentativ.
       
       Er hat recht. „Ambitioniert“ meint nicht einfach „ums Vorwärtskommen
       bemüht“. Laut dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache bedeutet das
       lateinische ambīre in seinem Ursprung „um etwas herumgehen“. „Ambitio“
       wurde später verstanden als das „Streben nach Ehre und Rang“. Wer
       ambitioniert ist, möchte gesehen werden. Eine solche Haltung geht
       Bremer:innen, selbst wenn sie nicht mit bloßem Überleben beschäftigt sind,
       überwiegend ab.
       
       Auch deshalb [1][bekommen FDP und CDU in der Stadt kein Bein an den Boden].
       Die meisten ihrer Protagonist:innen wirken zu ehrgeizig, klingen zu
       sehr nach „Make Bremen great again!“ Nicht viel besser ist der aktuelle
       Wahlslogan der FDP: „Zeigen wir, wie’s geht“ erinnert an einen
       Abiturienten, bereit, die Eltern stolz zu machen mit einem Studium zum
       Wirtschaftsingenieur.
       
       Zum Bremer Lebensgefühl passt viel besser die SPD, der es reicht, wenn alle
       Kinder irgendwie in die Schule gehen, Klima, Wirtschaft und Arme ein
       bisschen geschützt werden. Wer unter ihr mitregiert, ist egal, Hauptsache,
       sie benehmen sich und bleiben ohne große Ansprüche. Kein Wunder, dass die
       einzige Ampelkoalition Anfang der 90er Jahre vor ihrem Ende zerbrach. Und
       kein Wunder, dass die derzeitige rot-rot-grüne Koalition vier Jahre so
       harmonisch funktioniert hat, [2][behalten doch alle ihre Ambitionen
       weitgehend für sich].
       
       ## Nur Werder-Spieler sind Stars
       
       Deshalb müssen alle, die nicht einfach Geld verdienen oder ihr Erbe
       vermehren wollen, die Stadt verlassen – das gilt noch mehr für den zweiten
       Landesteil Bremerhaven, das 120.000 Einwohner:innen-Anhängsel 60 Kilometer
       vor Bremen, das nicht bloß am Fluss, sondern am Meer liegt, aber einem
       recht ambitionslosen. Auch der in Bremen aufgewachsene Freund hat Karriere
       in anderen Städten gemacht, bevor er zurückkehrte. Das Grünen-Paar
       Marieluise Beck und Ralf Fücks (mitverantwortlich für das vorzeitige
       Ampel-Aus) ging nach Berlin, und Jan und Benjamin und wie die kleinen
       großen Jungs so heißen, gehen hauptsächlich weg.
       
       Aber sie haben ja recht. In Bremen werden nur Werder-Spieler als Stars
       gefeiert. Der letzte aus einer anderen Branche war wahrscheinlich der
       [3][Regisseur Peter Zadek], als er in den 60er Jahren ein paar Stücke am
       Bremer Theater inszenierte. Die größte Werbeikone der Stadt ist immer noch
       [4][Ailton], der moppeligste Stürmer, der je zum Fußballer des Jahres
       gewählt wurde. 2004 war das. Dass mir außer der Schriftstellerin Nora
       Bossong keine Frauen einfallen, liegt hoffentlich nur daran, dass das
       Talent von Frauen generell seltener anerkannt wird als das von Männern.
       
       ## Es gelingt nicht nichts
       
       Zudem hat die Vergangenheit gezeigt, dass allzu große Ambitionen in Bremen
       nach hinten losgehen. Ausgerechnet die unambitionierteste aller
       Regierungskonstellationen, die jetzt nach 16 Jahren wieder droht, eine
       große Koalition aus SPD und CDU, war für die ambitioniertesten Projekte
       verantwortlich. Sie wollte Bremen mit großkotzigen Investitionen in
       Tourismus und Dienstleistung herausführen aus Arbeits- und
       Bedeutungslosigkeit und versenkte dabei Millionen, unter anderem im
       Spacepark, einer Mischung aus Einkaufszentrum und Weltraum-Abenteuerpark.
       
       Dabei ist es nicht so, dass Bremen nichts gelingt. So halten es einige
       erfolgreiche Unternehmen schon lange in der Stadt aus, aus der Luft- und
       Raumfahrtindustrie, Logistik, Windenergie. Und: kein anderes Bundesland
       hatte 2022 ein stärkeres Wirtschaftswachstum als Bremen. [5][Bürgermeister
       Andreas Bovenschulte] (SPD, was sonst) ist seit seinem Amtsantritt 2019 der
       erste Bremer Regierungschef, der regelmäßig interviewt wird. Bisher war
       dessen Meinung für überregionale Medien so interessant wie die der
       Torwarttrainerin von Werders Frauenteam.
       
       ## In der Pandemie viel richtig gemacht
       
       Der Wandel rührt daher, dass Bremen in der Pandemie [6][so viel richtig
       gemacht hat wie kein anderes Bundesland]. Eine der höchsten Impfquoten
       sowie offene Schulen und Kindertagesstätten, was sich im Nachhinein als die
       bessere Strategie heraus stellte, als Kinder und Jugendliche monatelang
       einzusperren.Der Rest der Republik wunderte sich, als ihm das – spät –
       auffiel, jeder Medienbeitrag schien mit demselben Staunen verfasst wie
       Meldungen über Spitzenforschung an der Universität, die als „rote
       Kaderschmiede“ bekannt wurde, die so schon nicht mehr existierte, als der
       Bürgermeister dort 1994 sein Jura Studium beendete.
       
       Erfolge passen nicht zum Image Bremens. Superlative lauten hier nicht „der
       größte Inlandsflughafen“, „die coolsten Clubs“, „die höchsten Ausgaben für
       Schulen“, „die sicherste Innenstadt“, „das geilste Alpenpanorama“. Der
       Zweitname des „kleinsten Bundeslands“ ist „Schlusslicht“, der Nachname „von
       der roten Laterne“. Das geht zurück auf die Ergebnisse der ersten
       Pisa-Studie im Jahr 2002, bei der Bremer Schüler:innen im
       Ländervergleich am schlechtesten abschnitten. Daran hat sich bis heute
       nichts Wesentliches geändert, und das hat viel mit dem zu tun, worin Bremen
       weit vorne liegt: [7][Der Armutsquote]. Laut Bertelsmannstiftung sind 41,1
       Prozent aller Bremer Kinder von Armut bedroht, 28,2 Prozent aller
       Einwohner:innen waren nach einem Bericht des paritätischen
       Wohlfahrtsverbands im Jahr 2021 arm, acht Prozentpunkte mehr als im
       Zweitplatzierten Berlin. Arm und nicht mal sexy.
       
       ## Armut kann man sehen
       
       Die Armut kann man sehen. Wer aus dem Bremer Bahnhof tritt, läuft direkt
       ins Elend und zwar egal, auf welcher Seite. Es gibt keinen hässlichen
       Hinterausgang und eine schicke Front zur City wie in Hannover oder Hamburg.
       Und hierin liegt vielleicht der Grund für das Ambitionslose, was manchmal
       ins Kleinkarierte umschlägt, wenn jeder mit mehr als fünf Stockwerken
       geplante Neubau in den hutzeligen Innenstadt-Vierteln von Bürgerinitiativen
       als „Wolkenkratzer“ bekämpft wird.
       
       Mit dieser nicht zu leugnenden Realität im Nacken als Kellerkind der
       Republik würde Bremens Stadtmarketing niemals ein Slogan einfallen analog
       zu dem Baden-Württembergs: „Wir können alles – außer Endsilben
       aussprechen.“ Eher würde es sich anlehnen an: „Bremens zweitbestes Bier –
       reicht doch!“ Zwar trieft aus der Lokalzeitung ein bräsig-defensiver
       Heimatstolz, aber ansonsten versuchen die Bremer:innen nicht weiter
       aufzufallen, was nicht schwer ist, weil sich bisher nur die Finanzsheriffs
       im Stabilitätsrat für Bremen interessiert haben, genauer für seine
       Schulden.
       
       ## Probleme machen demütig
       
       Die großen Probleme erden, machen demütig. Es geht darum, trotz allem
       durchzukommen, sich mit dem zufrieden zu geben, was da ist. Eine okaye
       Kulturszene mit gelegentlichen Ausreißern nach oben, ein ganz nettes Umland
       ohne besondere Highlights, eine relativ tolerante Gesellschaft, in der
       selbst CDU und FDP im Landtag einem Gesetz zustimmen, das für mehr
       Abtreibungsmöglichkeiten sorgen soll, eine Stadt, in der die Wege kurz und
       oft mit dem Rad befahrbar sind.
       
       Man kann es schlechter haben, denke ich, wenn ich im Sommer am Weserstrand
       sitze und überlege, mit der Fähre überzusetzen ins Viertel, der
       Mini-Edition von Kreuzberg. Meistens bleibe ich sitzen, auch wenn das Essen
       drüben besser wäre. Auch der Freund sagt übrigens, er fühle sich in Bremen
       wohl. Lange habe ich mich über die Stadtmusikanten als omnipräsente
       Maskottchen gewundert. Sie sind doch nie in Bremen angekommen! Wie ich sind
       sie einfach an einem Ort hängen geblieben, der gut zu ihnen war. Und genau
       deshalb sind sie das richtige Gesicht der Stadt. Wessen Motto lautet:
       „Etwas besseres als den Tod finden wir überall“, hängt die Messlatte nicht
       besonders hoch.
       
       11 May 2023
       
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