# taz.de -- Expertin über Nato-Position zu Ukraine: „2008 darf sich nicht wiederholen“
       
       > Beim Nato-Gipfel in Vilnius muss die Ukraine Sicherheitsgarantien
       > erhalten, sagt Osteuroa-Expertin Marie Dumoulin. Alles andere würde Putin
       > stärken.
       
 (IMG) Bild: Rostow am Don, Ende Juni: Mitglieder der Wagner-Gruppe währende der Revolte
       
       taz: Frau Dumoulin, vieles im Zusammenhang mit dem gescheiterten
       [1][Wagner-Aufstand vor anderthalb Wochen] liegt noch immer im Dunkeln.
       Welche Folgen sind für Russland und Präsident Wladimir Putin jetzt schon
       absehbar? 
       
       Marie Dumoulin: Bislang gründete Putins Regierungssystem darauf,
       verschiedene Gruppen wie die Sicherheitsdienste, die Armee sowie
       Privatarmeen wie Wagner gegeneinander auszuspielen. Das funktioniert nicht
       mehr. Wenn bei Spannungen zwischen diesen Gruppen nicht mehr vermittelt
       wird, kann das schnell gefährlich werden. Und das haben wir gesehen.
       
       In den vergangenen Tagen sucht Putin die Öffentlichkeit wie seit Jahren
       nicht. 
       
       Dieses Kommunikationsbedürfnis, verbunden mit der Botschaft, Putin habe das
       Land vor einem Blutbad bewahrt – was die Ereignisse dramatisiert –, ist in
       der Tat auffällig. Putins Diskurs, um seine Macht zu legitimieren, hat sich
       gewandelt. Seit seinem Amtsantritt hieß es immer, Putin habe die Ordnung im
       Land nach den chaotischen 90er Jahren wieder hergestellt. Jetzt hören wir:
       Unser Land und unser Staat werden bedroht und Putin ist angesichts dieser
       Bedrohungen der Garant für Sicherheit.
       
       Angeblich will der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko den Deal
       mit Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ausgehandelt haben. Glauben Sie an diese
       Version? 
       
       Diese Erzählung kommt allen zupass: Putin kann sagen, er sei nicht bereit
       gewesen, mit einem Verräter zu verhandeln. Prigoschin musste nicht mit
       irgendwelchen untergeordneten Leuten im Verteidigungsministerium sprechen.
       Da sieht es doch besser aus, mit einem Staatschef in Kontakt zu treten,
       auch wenn es nur der von Belarus ist. Es ging für Prigoschin darum, sein
       Gesicht zu wahren.
       
       Und Lukaschenko? 
       
       Ich glaube nicht daran, dass er verhandelt hat. Das hat sich wohl eher auf
       der Ebene der belarussischen Sicherheitsdienste abgespielt, die gute
       Kontakte zu ihren russischen Kollegen haben.
       
       Was könnte das alles für den Krieg in der Ukraine bedeuten? 
       
       In diesem Stadium sehe ich keine direkten Auswirkungen. Viel wird davon
       abhängen, ob die Wagner-Truppen in die russische Armee eingegliedert werden
       und am Kriegsgeschehen beteiligt bleiben. Die Truppenstärke bliebe
       erhalten, die Kommandokette würde sich jedoch vereinfachen.
       
       In westlichen Medien ist viel Kritik an der ukrainischen Gegenoffensive zu
       lesen: zu langsam, zu wenig sichtbare Erfolge. Sehen Sie die Gefahr, dass
       die Unterstützung der Partner der Ukraine bröckeln könnte, vor allem im
       Militärischen? 
       
       Natürlich steht Kyjiw unter Druck. Und wer wüsste besser als die Ukrainer,
       wie viel von dieser Gegenoffensive abhängt. In der westlichen
       Öffentlichkeit denken viele, dass sich das Szenario von Charkiw und Cherson
       wiederholen werde …
       
       … eine rasche Rückeroberung also … 
       
       … doch die militärischen Gegebenheiten haben sich stark verändert,
       beispielsweise sind die russischen Verteidigungslinien viel solider, als
       sie es in Charkiw waren. Kyjiw jetzt nicht weiter militärisch zu
       unterstützen, wäre das Absurdeste überhaupt. Der ukrainische Präsident
       Wolodimir Selenski hat vor Kurzem gesagt, man sei ja nicht in einem
       Hollywoodfilm. Das trifft es genau. Es herrscht Krieg, und dessen Rhythmus
       richtet sich nicht nach der Aktualität und medialen Erwartungen.
       
       Apropos Kriegsmüdigkeit und kontroverse Debatten über weitere
       Waffenlieferungen an die Ukraine: Wie stellt sich die Lage in Frankreich
       dar? 
       
       Eine neue Umfrage des Euro-Barometers zeigt, dass eine große Mehrheit für
       eine weitere Unterstützung der Ukraine ist – vergleichbar mit den Werten in
       den drei baltischen Staaten. Das New Europe Center, eine ukrainische
       Denkfabrik, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis.
       
       Über die Notwendigkeit verstärkter diplomatischer Bemühungen, um zu
       Friedensverhandlungen zu kommen, ist zumindest von Präsident Emmanuel
       Macron nichts mehr zu hören. 
       
       Die führenden Politiker in Frankreich sagen klar und deutlich, dass jetzt
       Bedingungen für Friedensverhandlungen nicht gegeben sind. Und es an der
       Ukraine sei zu sagen, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Grundsätzlich
       sind Stellungnahmen von Politikern zum Krieg in der Ukraine eher selten.
       Das Thema Außenpolitik ist in französischen Debatten ohnehin wenig präsent.
       Dazu kommt, dass Politiker, die traditionell eher Russland nahe standen,
       mittlerweile zu Moskau auf Distanz gegangen sind.
       
       Was ist vom anstehenden Nato-Gipfel in Litauen in Bezug auf die Ukraine zu
       erwarten? 
       
       Eine Wiederholung der Botschaft von 2008 in Bukarest darf es nicht geben.
       
       Damals wurde der Ukraine eine klare Nato-Beitrittsperspektive versagt –
       aus Rücksicht auf Russland. 
       
       Sollte das passieren, würden sowohl die Ukraine als auch die Nato
       geschwächt. Darüber hinaus muss es Entscheidungen über Sicherheitsgarantien
       für die Ukraine geben. Das wäre auch ein wichtiges Signal [2][an Russland],
       denn Putin setzt immer noch darauf, dass die Unterstützung des Westens für
       die Ukraine nachlässt.
       
       5 Jul 2023
       
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