# taz.de -- Ein Jahr nach dem Erdbeben in der Türkei: Wohnraum und Gerechtigkeit
       
       > Viele türkische Erdbebenopfer kriegen kaum neue Wohnungen. Manche kämpfen
       > noch immer dafür, dass die Verantwortlichen bestraft werden.
       
 (IMG) Bild: Trauer und Wut: Schon in den frühen Morgenstunden des Jahrestages kam dieses Ehepaar zur Kundgebung nach Antakya
       
       Letzten Samstag, drei Tage vor dem [1][Jahrestag des großen Bebens], stand
       Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor einer neu gebauten Wohnsiedlung am Rande
       des weitestgehend zerstörten Antakya und pries sein Neubauprogramm. 200.000
       Wohneinheiten sollen in der Katastrophenregion in diesem Jahr noch
       fertiggestellt werden, weitere 100.000 sollen 2025 folgen.
       
       Das bislang von den angekündigten 300.000 neuen Behausungen, die er
       ursprünglich bereits für das erste Jahr nach dem Beben angekündigt hatte,
       nur gerade mal 46.000 bezugsfertig sind, spielt bei Erdoğans Auftritt
       natürlich keine große Rolle.
       
       Auch über die Wohnraumfrage insgesamt wird bei dem PR-Auftritt vor den
       schmucken Neubauten nicht geredet, dabei häufen sich die Probleme. Am
       Wochenende hat das Innenministerium die offizielle Schadensbilanz des
       großen Bebens vom 6. Februar 2023 vorgelegt. Sie ist niederschmetternd.
       
       Insgesamt 53.357 Menschen sind offiziell allein in der Türkei gestorben,
       rund 7.000 noch einmal in Syrien. Mehr als 100.000 wurden verletzt,
       Betroffene sprechen davon, dass immer noch mehr als 100 Menschen vermisst
       werden, entweder begraben unter Trümmern oder in den Massengräbern nicht
       identifiziert.
       
       ## Neue Wohnung im Lotto
       
       Von dem Erdbeben, dass sich auf zehn Provinzen im Südosten des Landes
       verteilte, gelten die Bezirke Hatay, Kahramanmaraş, Adıyaman und Malatya
       weiterhin als schwer betroffen. Viele Menschen haben die Region dauerhaft
       in Richtung Westen verlassen, in die Mittelmeermetropolen Adana und Mersin,
       nach Antalya und Izmir, vor allem aber nach Istanbul und Ankara.
       
       Von denen die geblieben sind, leben nach offiziellen Angaben rund 700.000
       in Behelfsunterkünften, meist in Containerdörfern, die der türkische
       Katastrophenschutz Afad aufgebaut hat und betreut. Auch hier fehlt es in
       Teilen an Heizungen, Strom, Wasser und Sanitäranlagen.
       
       Viele Menschen hoffen auf die von Erdoğan versprochenen neuen Wohnungen.
       Doch selbst wenn man per Los eine Unterkunft zugeteilt bekommt, haben diese
       Wohnungen in den von der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft Toki im
       Eilverfahren hochgezogenen Häusern für viele Erdbebenopfer einen hohen
       Preis.
       
       Denn beteiligen sie sich am Lotterieverfahren dafür, müssen sie die Rechte
       an ihren alten Grundstücken, die oft in den früheren Stadtzentren liegen,
       aufgeben. Viele wollen das nicht, sie hoffen auf einen späteren
       Wiederaufbau der zerstörten Städte.
       
       ## Die Wut der Überlebenden
       
       Wer dennoch eine der neuen Wohnungen haben will, die oft weit weg von den
       alten Stadtzentren entstehen, muss den halben Preis selbst zahlen,die
       andere Hälfte übernimmt der Staat. Im Schnitt sind das um 25.000 Euro,
       unerschwinglich für viele. Die Alternative ist ein lebenslanger
       Pachtvertrag – die Wohnungen lassen sich dann aber nicht vererben.
       
       Viele der Erdbebenopfer können sich aber noch gar nicht richtig auf ihre
       Zukunft einlassen. Sie kämpfen vehement für die Bestrafung von Eigentümern,
       Architekten und Behörden, die für den Pfusch am Bau verantwortlich sind,
       der zum Einsturz vieler Häuser geführt hat. So etwa ein ganzer Wohnblock in
       Kahramanmaras, bei dessen Einsturz allein rund 1.400 Menschen starben.
       
       Eine Betroffene, Zahide Seker, die in dem Wohnblock zwei Kinder verloren
       hat, hat in einer Containersiedlung bei Kahramanmaras Betroffene
       zusammengetrommelt, die gegen Bauunternehmer als Nebenkläger antreten. „Ich
       will Gerechtigkeit“, sagte sie der Nachrichtenagentur AFP, „nur
       Gerechtigkeit kann mir jetzt noch Trost geben.“
       
       [2][Prozesse gegen Bauunternehmer] haben begonnen, doch die Beweisführung
       ist schwierig, auch weil oft Unterlagen fehlen, und das Innenministerium
       verhindert, dass Beamte angeklagt werden können. Schließlich wurde der
       Pfusch am Bau auch deshalb möglich, weil Schwarzbauten in der Region von
       den Behörden immer wieder legalisiert worden waren. Dadurch, lobte
       Präsident Erdoğan noch 2019, seien allein in Kahramanmaras Platz für
       zusätzlich 145.000 Menschen geschaffen worden.
       
       6 Feb 2024
       
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 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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