# taz.de -- Schmerzhafter Wozzeck zum 100.: Die brutale Logik der kapitalistischen Moderne
       
       > Zur Uraufführung 1925 gab es antisemitische Anfeindungen: Nach 100 Jahren
       > ist Alban Bergs Oper „Wozzeck“ erneut an der Berliner Staatsoper zu
       > erleben.
       
 (IMG) Bild: Verzweiflung der Moderne: Szene aus „Wozzeck“
       
       Man weiß nicht so recht, was mehr schmerzt an diesem Stück: die
       wiederholten Demütigungen, die der Körper dieses Gehetzten erleidet; die
       Gewalt, die sich entlädt, in dem fatalen Durchbruch seiner Halluzinationen,
       die nicht die Umstände anklagen, sondern sich hineinsteigern in die
       mörderische Eifersucht gegenüber seiner Frau Marie? Oder ist es die
       erschreckend lose Aneinanderreihung dieses unguten Geschehens, das nicht
       über den Status disparater Geschehensfetzen und vereinzelten Figuren
       hinauskommt und so das erschreckende Gefühl eines sinnlosen, von
       Gleichgültigkeit durchdrungenen Gewaltgeschehens hervorruft?
       
       [1][Georg Büchners „Woyzeck“] wurde von [2][Heiner Müller] einmal als
       „offene Wunde“ bezeichnet. Und auch wenn tief liegende Wunden bisweilen
       fehlgeleitete Heilungsmethoden hervorbringen, die zur Schablone verkommen
       können: Ein ergreifender, ein hochpräziser Abend in der Berliner Staatsoper
       Unter den Linden legt aktuell, und das mitten ins Herz, die Wunde Woyzeck
       frei. Das vor allem durch Musik, nämlich indem sie „Wozzeck“, die
       avantgardistische Oper von Alban Berg, in der Inszenierung von Andrea Breth
       und unter dem Dirigat von [3][Christian Thielemann,] anlässlich des
       Jubiläums ihrer Uraufführung 1925, vor 100 Jahren, wieder auf den Spielplan
       gesetzt hat.
       
       „Wozzeck“ und nicht „Woyzeck“: Ja, eine leichte, aber wirkmächtige
       Verschiebung, die zunächst auf einem einfachen Lesefehler Bergs beruhte,
       der dann aber bewusst beibehalten wurde, wahrscheinlich um die Autonomie
       des neuen, musikalischen Zugangs herauszustellen. Vielleicht aber auch,
       weil dieses „Wozzeck“ noch ein klein wenig kälter, hündischer, ein klein
       wenig präziser klingt.
       
       ## Soziale Notlagen und die Brutalität der Armut
       
       So oder so, sowohl „Woyzeck“ als auch „Wozzeck“ haben sich als
       revolutionäre Stücke in die Theater- und Musikgeschichte eingeschrieben.
       [4][Büchners Drama] ist das erste deutsche, das vom niedrigen Leben
       erzählt, von einer subbürgerlichen Schicht, das in radikaler Weise soziale
       Notlagen und die Brutalität der Armut abbildet. 1835/36 verfasst, ist es
       Kommentar auf Massenarmut und abgründige Wirklichkeiten im Schatten der
       bröckelnden, aufklärerischen Ideale.
       
       Menschen aus Fleisch und Blut zeigen wolle er – und nicht entfernte
       Träumereien wie die Idealdichter seiner Zeit mit „himmelblauen Nasen und
       affektiertem Pathos“, schreibt Büchner einmal. Auch, wenn das bedeutet, die
       mörderischen Mechanismen von Fatalismus und Orientierungslosigkeit im
       Zeichen der brutalen Logiken der kapitalistischen Moderne ins Bild zu
       setzen, anstelle den bürgerlichen Idealen verklärter Gleichheit und
       Ich-Kontrolle Vorschub zu leisten.
       
       Und so zuckt’s, hetzt’s und schwitzt’s in den Körpern, die in einer
       Übergangszone zwischen Menschlichem und Animalischem sind, und in der
       eigensinnigen Sprache, die als Volksidiom zwischen
       Pseudowissenschaftlichkeit und fatalistischer Volksreligiosität ihren
       Ausdruck findet. Das alles verfasst von einem Dichter, der als Doktor der
       Medizin neben dem Unbeherrschbaren des Menschen auch die Hirne und Nerven
       von Barben studierte.
       
       [5][Alban Berg] wiederum nimmt dieses irrende Stück und übersetzt es in
       eine musikalische Sprache. Er beginnt während des Ersten Weltkriegs mit der
       Komposition, selbst mit einem neuen Krisenmoment der Moderne, der
       Umwandlung des technischen Fortschritts in kriegerische Apparatur und der
       Militarisierung und Traumatisierung der Körper, konfrontiert. Mehr als zehn
       Jahre arbeitet er an dem Stück, bis es 1925 an der Staatsoper zur
       Uraufführung kommt, nun in einer von der Hyperinflation gebeutelten
       Gesellschaft.
       
       ## Angriffe auf die Zwölftontechnik
       
       Von der konservativen bis zur ultranationalistischen und antisemitischen
       Presse wird der „Wozzeck“ angefeindet. Berg wird in rassistischer,
       diffamierender Weise als „Komponist jüdischer Abkunft“ dargestellt (obwohl
       er im Übrigen kein Jude war). Inhaltliche und politisch motivierte
       Vorbehalte verbinden sich mit ästhetischen Angriffen auf die
       Zwölftontechnik, sodass die Wirkung der Komposition bisweilen als schrill,
       bisweilen als langweilig dargestellt wird.
       
       Wer selbst Vorbehalte gegen das Intellektualistische der Zwölftontechnik
       haben mag: Im Gegensatz zur Kopfmusik [6][Arnold Schönbergs] gelingt es
       Berg und dieser feinfühlig, zurückhaltend dirigierten Wiederaufnahme zu
       berühren, weil sie das Fragmentierte und Hochkonkrete der Vorlage mit einem
       abstrakten Klangraum gar nicht erst zu illustrieren versucht, sondern es
       mit einer Sanftheit vervollständigt, durchkreuzt, dem Ungesagten eine
       Menschlichkeit zurückgibt. So kann in der offenen Wunde tiefes Mitgefühl
       wachsen.
       
       16 Dec 2025
       
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