# taz.de -- Wilder Streik in der Sozialarbeit: „Das ganze System fährt an die Wand“
> Der Sozialbereich leidet besonders stark unter dem Kürzungsdruck. Für
> kommenden Donnerstag rufen die Beschäftigten freier Träger zum Streik
> auf.
(IMG) Bild: Nicht der erste Arbeitskampf: Beschäftigte freier Träger streiken für die Hauptstadtzulage im Mai, damals noch legal
taz: Frida Sommer, Karl Fröhlich, Sie rufen am kommenden Donnerstag die
Beschäftigten freier Träger zu einem „[1][wilden Streik]“ auf. Sie und ihre
Kolleg:innen wollen sich krankschreiben lassen und maskiert auf die
Straße gehen. Was ist der Anlass?
Frida Sommer: An dem Tag verabschiedet das Abgeordnetenhaus den
Sparhaushalt. Gerade wir Beschäftigte der freien Träger waren in den
letzten Jahren massiv von Kürzungen betroffen. Es ist wichtig, dass die
Angebote der freien Träger, die es gibt, mit besseren Arbeitsbedingungen
weiterlaufen und nicht gekürzt werden. Im Endeffekt geht es uns darum, dass
der Staat wieder seine elementarste Aufgabe ernst nimmt: eine sichere
Daseinsvorsorge für die Menschen zu gewährleisten.
taz: Wie ist zurzeit die Situation in Ihrer Branche?
Karl Fröhlich: Wir merken eine Zuspitzung der Probleme. Die Arbeit wird
härter dadurch, dass Angebote wegfallen oder Hilfen nicht ausreichend
ausfinanziert sind. Ich habe in der offenen Sozialberatung häufig damit zu
tun, dass Menschen, die eigentlich einen Rechtsanspruch auf Hilfsleistungen
haben, diese gar nicht erfüllt bekommen.
taz: Können Sie ein Beispiel aus Ihrem Arbeitsalltag nennen?
Sommer: Bei mir kommen junge Frauen in die Beratungsstelle, die akut von
Gewalt betroffen sind, für die wir aber keine Frauenhausplätze mehr finden.
Ich habe junge Menschen in der Beratung, die aufgrund der erlebten
sexualisierten Gewalt suizidal sind und nicht die notwendige Unterstützung
bekommen. Das ganze System fährt an die Wand und wir müssen das tagtäglich
mit anschauen.
Fröhlich: Ich habe einen Mann aus Neukölln um die 40 in der Beratung, der
eine seelische Behinderung hat und verschiedene körperliche
Einschränkungen. Er versucht seit vielen Jahren, Eingliederungshilfe zu
bekommen, und ist immer gescheitert, auch aufgrund seiner psychischen
Erkrankung. Für den wäre es super wichtig, eine Begleitung zu bekommen,
damit er seine Wohnung halten kann, er nicht obdachlos wird und damit er
auch seine gesundheitlichen Themen angehen kann.
taz: In den Haushaltsverhandlungen konnten viele kürzungsbedrohte Projekte
gerettet werden. Sind Sie erleichtert?
Fröhlich: Es ist eine große Unsicherheit, dieses ganze Hin und Her. Da
werden Kürzungen gemacht und dann wieder zurückgezogen. Oft geht die
Finanzierung ohnehin nur für ein Jahr. Da bist du ein halbes Jahr damit
beschäftigt, das Projekt aufzubauen, Leute einzuarbeiten, und dann kannst
du eigentlich schon in die Abwicklung gehen. Du musst schließlich alles
nachweisen, was du gemacht hast. Ich habe Kolleg:innen, die jetzt noch
nicht wissen, ob ihr Projekt im nächsten Jahr noch weiter finanziert wird.
Das ist für die eine totale Belastung. Sie fragen sich, ob sie jetzt schon
kündigen sollen oder lieber noch weiter hoffen?
Sommer: Deshalb fordern wir eine längerfristige Finanzierung von Projekten.
Jedes Jahr Projekte, die seit Jahren bestehen, wieder neu beantragen zu
müssen, frisst Kapazitäten. Es macht einfach keinen Sinn, dass wir keine
Verlässlichkeit haben. Das macht die Planbarkeit total schwierig. Wir haben
das Gefühl, wir müssen darum betteln, dass wir überhaupt unsere Arbeit
machen dürfen.
taz: Sie haben die Aktion „[2][Sickout statt Burnout]“ genannt. Eine
Anspielung auf die psychische Belastung des Jobs?
Sommer: Ich war diesen Sommer kurz vorm Burnout. Ich habe gemerkt, mir
fehlen die Mittel, um die Hilfe zu leisten, die meine Klient:innen
eigentlich bräuchten. Ich habe mich so ohnmächtig gefühlt und das macht
krank. So geht es vielen Kolleg:innen. Es gibt eine sehr hohe Fluktuation
in den Teams, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist, dass es nicht mehr
auszuhalten ist.
taz: Ein wilder Streik, also ein Streik, der ohne gewerkschaftliche
Beteiligung stattfindet, ist besonders in Deutschland ungewöhnlich. Warum
habt ihr diese Aktionsform gewählt?
Sommer: Wir haben alles Mögliche versucht. Wir haben gefühlt tausendmal
vorm Roten Rathaus protestiert, haben Brandbriefe geschrieben. Jetzt sehen
wir keine andere Möglichkeit mehr, außer klar zu machen, dass wir unter
diesen Bedingungen nicht mehr weiterarbeiten können. Dafür ist eine
Arbeitsniederlegung das deutlichste Mittel.
Fröhlich: Es gibt für uns kaum Möglichkeiten, einen gewerkschaftlichen
Streik zu organisieren, weil die Tarifbindung in dem Bereich oft gar nicht
gegeben ist.
taz: Und warum streikt ihr nicht bei euren Arbeitgebern, den freien
Trägern, für einen Tarifvertrag? Das wäre ja der legale Weg.
Sommer: Die freien Träger sind zum Teil sehr klein. Bei 10 Mitarbeitenden
ist eine gewerkschaftliche Organisierung schwierig. Und unser Protest
richtet sich ja nicht direkt gegen unsere Arbeitgeber:innen, sondern gegen
den Senat, weil wir eine stabile Ausfinanzierung der freien Projekte
fordern.
Fröhlich: Unsere Arbeitsbedingungen hängen natürlich von den
Arbeitgeber:innen ab, aber auch von deren Verträgen mit dem Land
Berlin. Es ist dieses sozialrechtliche Dreiecksverhältnis, was ein Teil des
Problems ist. Die öffentliche Seite will in diesen Vertragsverhandlungen
natürlich sparen. Und davon hängt ab, wie viele Stellen und welche
Einrichtungen finanziert werden.
taz: Stichwort sparen: Der Senat verweist ja gerne darauf, dass einfach
kein Geld da sei. [3][Wenn Geld für soziale Arbeit erstreikt wird, fehlt es
dann nicht anderswo?]
Sommer: Wir sind keine Finanzexperten. Aber wir sehen, dass über Nacht
Milliarden für Rüstungsausgaben bewilligt werden können. Laut einem vor
kurzem veröffentlichten Bericht des Justice Collectives gibt es in Berlin
mehr Polizist:innen pro Kopf als in New York. Es ist absurd. Deshalb
sehen wir es nicht ein, wieso dann kein Cent für die soziale Infrastruktur
ausgegeben werden kann?
taz: Ihr schließt euch dem Streik der Beschäftigten im öffentlichen Dienst,
die für Lohnsteigerungen im Tarifvertrag der Länder (TV-L) kämpfen. Warum
wartet ihr nicht den Tarifabschluss ab? Die Bezahlung der Beschäftigten bei
den freien Trägern orientiert sich doch am TV-L.
Sommer: Wir verdienen im Schnitt 15 bis 20 Prozent weniger als unsere
Kolleg:innen im öffentlichen Dienst und erhalten keine Hauptstadtzulage…
taz: [4][Einen monatlichen Bonus von 150 Euro], den der Senat eigentlich
den Beschäftigten der freien Träger zugesagt hat, aber denn wieder
zurückgenommen hat.
Sommer: Genau. Wir fordern eine Gleichbehandlung der Beschäftigten im
öffentlichen Dienst und bei freien Trägern. Aber wir wollen uns mit den
Kolleg:innen zusammenschließen. Uns geht nicht nur um die Bezahlung,
sondern auch, um die Bedingungen unter denen wir arbeiten.
taz: Wilde Streiks können in Deutschland arbeitsrechtliche Konsequenzen zur
Folge haben. Habt ihr da keine Angst vor?
Fröhlich: Darüber haben wir uns natürlich Gedanken gemacht. Wir rufen alle
Kolleg:innen dazu auf, sich krankschreiben zu lassen. Auf der Streikdemo
werden wir rote Masken und Sonnenbrillen tragen, um nicht direkt erkannt
werden zu können. Wir wollen die Aktion nur durchführen, wenn wir
mindestens 100 Kolleg:innen werden. Dafür sammeln wir gerade
Streikversprechen. Wir hoffen, dass sich noch viele mehr anschließen
werden. Denn bei 100.000 Beschäftigten in freien Trägern und der aktuellen
Situation, geht da sicher noch viel mehr. Abgesehen davon gehen wir davon
aus, dass unsere einzelnen Geschäftsleitungen von arbeitsrechtlichen
Konsequenzen absehen. Wir streiken ja für eine bessere Ausfinanzierung
unserer Träger.
taz: Wird der Streik bei einer einmaligen, eher symbolischen Aktion bleiben
oder wäre auch ein längerer Arbeitskampf vorstellbar?
Fröhlich: Ich glaube, es ist jetzt unser erster Stärketest. Wir werden
schauen, wie viele Kolleg:innen bereit sind zu streiken. Es wird
bestimmt nicht unser letzter Protest sein. Es wird noch weitere
Tarifauseinandersetzungen während der TVL-Verhandlungen geben und nächstes
Jahr sind auch noch Wahlen in Berlin.
15 Dec 2025
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