# taz.de -- Jahrestag des überraschenden Notstands: Einmal Kriegsrecht und zurück
       
       > Südkoreas Demokratie hat in den letzten zwölf Monaten ihre schwerste
       > Krise überwunden. Doch die Spaltung der Gesellschaft ist tiefer denn je.
       
 (IMG) Bild: Ging als Sieger aus der Krise hervor: Der damalige linksliberale Oppositionsführer Lee Jae Myung ist heute Südkoreas Präsident
       
       Ein Jahr nachdem der damalige Präsident Yoon Suk Yeol das Kriegsrecht
       verhängt hat, scheint für viele Südkoreaner der Ausnahmezustand längst noch
       nicht vorbei. Wochenende für Wochenende ziehen mehrere Tausend meist ältere
       Anhänger Yoons in das Zentrum der Hauptstadt Seoul, um die Freilassung
       [1][des mittlerweile verhafteten Politikers] zu fordern. Dass der Protest
       wie eine skurrile Mischung aus evangelikalem Gottesdienst und militanter
       Bürgerwehr wirkt, ist kein Zufall: Oft führen erzkonservative Pastoren die
       Proteste an. Mit „Halleluja!“-Rufen feuern sie die Massen im vermeintlichen
       Kampf für die freiheitliche Ordnung des Landes an.
       
       Was in den Abendstunden des 3. Dezembers 2024 passierte, entzweit die
       Menschen bis heute: Der 64-jährige Yoon trat damals überraschend vor die
       Fernsehkameras, um den Notstand zu erklären. Angeblich sei die linke
       Opposition von kommunistischen Kräften aus Nordkorea und China
       unterwandert, sagte er mit ernster Miene. Beweise dafür legte er nicht vor.
       
       Wenige Minuten später ließ Yoon Armeehelikopter auf dem Parlamentsgebäude
       landen, Panzer rollten an, Spezialkräfte riegelten das Gelände der
       Nationalversammlung ab. Doch gelang es 190 Abgeordneten, sich dort zu
       verbarrikadieren. Sie beriefen eine Abstimmung ein und [2][setzten das
       Kriegsrecht nach nur wenigen Stunden außer Kraft].
       
       So hatte die südkoreanische Demokratie ihre bisher härteste Bewährungsprobe
       seit den ersten freien Wahlen des Landes 1987 nur haarscharf überstanden.
       Ein Jahr später erinnert an der Oberfläche kaum noch etwas an das dunkle
       Kapitel. Die politische Landschaft hat sich aber seither diametral
       gewandelt: Der [3][Linkspopulist Lee Jae Myung], damals Oppositionsführer,
       wurde im Juni mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt.
       
       ## Kehrtwende in der Nordkoreapolitik
       
       Der harten Nordkoreapolitik seines Vorgängers setzt Lee eine
       Charmeoffensive entgegen, auch gegenüber China versucht er, die Wogen zu
       glätten. Im Inneren hat der 61-Jährige die Märkte stabilisiert, die
       Energiewende fokussiert und sich Zukunftstechnologien zugewandt: Er will
       Südkorea als führenden Player bei künstlicher Intelligenz etablieren.
       
       Allmählich erholt sich die Gesellschaft von den traumatischen Ereignissen.
       Laut dem Meinungsforschungsinstitut Gallup hat die Bevölkerung mehrheitlich
       wieder Vertrauen in ihre Regierung (43 Prozent), das Militär (70 Prozent),
       Wahlsystem (60 Prozent) und Justizministerium (29 Prozent) zurückerlangt.
       Auch die Aktienmärkte haben nach einem Einbruch im Zuge der Staatskrise
       wieder Fahrt aufgenommen: Der Kospi ist 2025 so stark gestiegen wie kein
       anderer globaler Leitindex.
       
       Trotzdem ist in der Bevölkerung keine wirkliche Aufbruchsstimmung zu
       spüren. Die Menschen leiden unter rasant gestiegenen Lebensmittelpreisen,
       hohen Wohnkosten und einem hart umkämpften Arbeitsmarkt. Vor allem aber
       mangelt es den Südkoreanern an Gesellschaftlichem: In einer Umfrage im
       Auftrag der konservativen Tageszeitung Joongang Ilbo gaben 77 Prozent an,
       dass sich die politische Polarisierung seit letztem Dezember weiter
       verschärft hat.
       
       ## Niedrige Geburtenrate, hohe Selbstmordrate
       
       Die Spaltungen zeigen sich nicht nur zwischen den politischen Lagern,
       sondern auch in der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich sowie zwischen
       den Generationen, den Regionen und den Geschlechtern. Den angeschlagenen
       Zustand der südkoreanischen Gesellschaft zeigen auch zwei Kenngrößen: Das
       Land leidet sowohl unter der höchsten Suizidrate als auch unter der
       niedrigsten Geburtenrate aller OECD-Staaten.
       
       Die Ursachen liegen auch in der traumatischen jüngeren Geschichte des
       Landes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kolonisierte das japanische
       Kaiserreich Korea. Männer mussten in Arbeitslagern schuften, Frauen wurden
       als sogenannte „Trostfrauen“ in Japans Militärbordellen sexuell versklavt.
       Als Korea 1945 unabhängig wurde, brach bald darauf ein Krieg (1950–53)
       zwischen dem kommunistischen Norden und dem kapitalistischen Süden aus.
       
       Nach der Teilung Koreas wurde der Süden meist von autoritären Militärs
       regiert, die Gewerkschaften, Demokratieaktivisten und Studentenbewegungen
       brutal unterdrückten. Mit viel Blut erkämpfte sich das Volk schließlich
       Ende der 1980er Jahre seine demokratischen Rechte und schuftete sich vom
       bitterarmen Agrarstaat zu einer der führenden Volkswirtschaften der Welt
       hoch. [4][Mit seiner popkulturellen Strahlkraft wurde zudem eine „Soft
       Power“ zur Erfolgsstory.]
       
       Doch politisch ist der ostasiatische Tigerstaat kaum zur Ruhe gekommen:
       Fast alle Präsidenten der letzten Jahrzehnte landeten nach ihrer Amtszeit
       korruptionsbedingt hinter Gittern, begingen Suizid oder wurden ihres Amtes
       enthoben. Auch Yoon wartet derzeit im Gefängnis auf sein Urteil. Ihm wird
       unter anderem „Aufruhr“ zur Last gelegt, was theoretisch mit der
       Todesstrafe geahndet werden kann.
       
       Der schwerste Vorwurf der Sonderermittler: Yoon soll im Oktober 2024
       bewusst eine Drohne über die Grenze nach Nordkorea geschickt haben. Damit
       wollte er den Nuklearstaat im Norden zu einer militärischen Gegenreaktion
       provozieren, mit der er dann seine Kriegsrechtspläne hätte rechtfertigen
       können.
       
       3 Dec 2025
       
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