# taz.de -- Schau zu Märchen und Comics in Kassel: Wenn Fische Menschen mit Tabak ködern
       
       > Die Ausstellung „Ich, das Tier“ in der Kasseler Grimmwelt zeigt die
       > Entwicklung anthropomorpher Tierfiguren vom Märchen bis zum
       > Zeitungs-Comicstrip.
       
 (IMG) Bild: Gus Dirks: Ausschnitt aus „An Easter Hold-Up“, ganzseitiges Wimmelbild aus einer US-Zeitungsausgabe vom 8. April 1900
       
       Es ist eine apokalyptische Szenerie. Im Zentrum des doppelseitigen Panels
       ist ein riesiger Festungswall zu sehen, dem sich von allen Seiten
       Panzerkolonnen, Bodentruppen und aus der Luft Kampfflieger nähern. Auf
       einer Seite des Walls klettert eine unendliche Masse an Stahlhelmen und
       Uniformen die Mauer hoch. Es sind Wolfshorden, die das Land der friedlichen
       Kaninchen angreifen.
       
       Das Wimmelbild aus Edmond-François Calvos Comic „Die Bestie ist tot“
       illustriert in verdichteter Weise den Angriff von Hitlers Wehrmacht auf
       Frankreich 1940. Der Künstler (1892–1957) zeichnete die Geschichte des
       Zweiten Weltkriegs als Tierparabel zwischen 1943 und 1944, also noch
       während der deutschen Besatzungszeit, und setzte damit sein Leben aufs
       Spiel.
       
       Die Ausstellung „Ich, das Tier“ ist nicht zufällig von der Grimmwelt Kassel
       initiiert worden, die dieses Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum feiert. Liegen
       doch die Wurzeln der anthropomorphen Tierdarstellung – darin werden
       menschliche Verhaltensweisen auf Tiercharaktere projiziert – in antiken
       Fabeln wie in frühen Märchen, die maßgeblich von den Brüdern Grimm
       gesammelt und geprägt wurden.
       
       ## Garfield darf natürlich nicht fehlen
       
       Die vom Dortmunder Kunsthistoriker Alexander Braun kuratierte Schau zieht
       einen Bogen von den Anfängen gezeichneter Tierdarstellungen in Bilderbogen
       des 19. Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen humoristischen
       Cartoonfiguren wie „Garfield“ und innovativen Formaten wie der US-Serie
       „Fables“.
       
       Viele der [1][von den Brüdern Grimm zusammengetragenen Erzählungen]
       enthalten vermenschlichte Tierfiguren. Doch erst ab 1825 wurde die
       Märchensammlung zum Bestseller, als die „Kleine Ausgabe“, eine kompakte
       Auswahl mit Illustrationen, erschien.
       
       Die beliebten deutschen Bilderbogen, günstig zu erwerbende Einblattdrucke,
       griffen im 19. Jahrhundert häufig auf Tiermärchen wie „Froschkönig“ oder
       „Der gestiefelte Kater“ zurück und trennten Bilder und Texte meist
       säuberlich. Origineller waren die Münchener Bilderbogen Wilhelm Buschs und
       Adolf Oberländers, deren selbst erdachte Bildergeschichten sich durch
       satirischen Biss auszeichneten und moderne Comicformen bereits
       antizipierten.
       
       ## Aufwändige Illustrationen
       
       In Frankreich sind die Tierfabeln des barocken Schriftstellers Jean de La
       Fontaine besonders populär. Vom Meisterillustrator Gustave Doré (1832–1883)
       sind in Kassel einige aufwendige Illustrationen zu La Fontaines Parabeln zu
       sehen. Dorés älterer Zeitgenosse Grandville (1803–1847) schuf wiederum
       ganze Zyklen von Illustrationen, die gängige Muster der Tierfabeln ad
       absurdum führten. Seine surrealen Szenen sind voller Mischwesen zwischen
       Pflanze, Tier und Mensch.
       
       In einer Lithografie zeigt er angelnde Fische, die im Wasser plantschende
       Menschen mit Schmuck, Tabak oder Urkunden ködern. Grandville hielt der
       damaligen Gesellschaft auf originelle Weise den Spiegel vor. Walter
       Benjamin interpretierte dessen Werke später als Kritik an der Warenwelt
       während der aufkommenden Frühindustrialisierung und bezeichnete Grandville
       [2][als „Zauberpriester“ des Fetischs Ware].
       
       Ausführlich geht die Schau auf US-Comicstrips in Tageszeitungen ein, die
       Tiere erstmals als feste Serien-Protagonisten etablierten. Gus Dirks
       (1881–1902) war ein deutscher Einwanderer und schuf als Comicpionier in
       seiner kurzen Lebenszeit ein ganzes Universum namens „Bugville“. Darin
       übertrug Dirks menschliche Verhaltensweisen auf bezaubernde Weise in die
       Welt der Käfer und weiterer Insekten. „Felix the Cat“ von Pat Sullivan war
       in den 1920ern wiederum der beliebteste anthropomorphe Tiercharakter.
       
       ## Der Micky Maus-Schub
       
       [3][Walt Disney versetzte dem zeitgleich sich entwickelnden
       Zeichentrickfilm] einen gewaltigen Schub, als er ab 1928 mit der frechen
       „Micky Maus“ erste animierte Ton- und Musikfilme schuf. In der Schau sind
       seltene Animationszeichnungen aus dem ersten Langfilm „Schneewittchen“ von
       1937 ausgestellt, in denen Tiere als kluge Helfer der menschlichen
       Protagonisten fungieren.
       
       „Ich, das Tier“ zeigt einen großen Facettenreichtum animalischer
       Metamorphosen, der bis in die Gegenwart reicht. Weitere Höhepunkte stammen
       aus den nuller Jahren: Bryan Talbot ( geboren 1945) versetzt in fünf
       Comicalben seinen Dachs-Detektiv „Grandville“ in eine Steampunk-Version des
       viktorianischen London.
       
       Inhaltlich nicht weniger ambitioniert ist die von Bill Willingham verfasste
       US-Heftreihe „Fables“. In der in realistischem Stil von Mark Buckingham
       gezeichneten Serie werden bekannte Märchencharaktere aus ihrer Welt ins New
       York der Gegenwart vertrieben. Die Figuren erfahren in der Erzählung neue
       Deutungen: Meister Gepetto wird zum Kriegstreiber und der freundliche Wolf
       „Bigby“ [4][zeugt mit Schneewittchen] Kinder.
       
       20 Nov 2025
       
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