# taz.de -- Korruption in der Ukraine: Knietief im Korruptionssumpf
> Wegen einer Schmiergeldaffäre gerät die Regierung massiv unter Druck. Im
> Zentrum soll ein enger Vertrauter von Präsident Wolodymyr Selenskyj
> stehen.
(IMG) Bild: Justizminister Haluschtschenko und Präsident Selenskyj. Haluschtschenko wurde jetzt von seinem Amt suspendiert
Die Ukraine wird von einem neuen Korruptionsskandal erschüttert. Nachdem
die ukrainischen Antikorruptionsbehörden 15 Monate lang minutiös Beweise
und Unterlagen gesammelt hatten, schlugen sie am Montag zu. [1][Das
Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU)] und die Spezialisierte
Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) deckten ein weitverzweigtes Netz
mutmaßlicher Korruption auf, in dessen Mittelpunkt das staatliche
Energieunternehmen Energoatom steht.
Laut den Ermittlern existieren über 1.000 Stunden abgehörter Gespräche, die
ein komplexes Korruptionsnetz dokumentieren. Bei den in russischer Sprache
geführten Gespräche sprechen sich die verdächtigen Personen ab, wie sie
„Provisionen“ in Höhe von 10 bis 15 Prozent in die eigene Tasche
wirtschaften können. Dabei handelte es sich um Gelder, die in erster Linie
für den Bau von Anlagen zum Schutz vor Luftangriffen eingesetzt werden
sollten.
Unter anderem ist auch die Aussage eines Mannes zu hören, der darüber
klagt, dass es gar nicht so einfach sei, einen Koffer mit anderthalb
Millionen Dollar schleppen zu müssen. Besprochen wurde in diesen Sitzungen
auch, mit welchen Druckmitteln man sicherstellen könne, dass diese
Provisionen auch wirklich gezahlt würden.
Gegenüber dem Portal New Voice spricht der Direktor des Zentrums für
Energieforschung, Oleksandr Chartschenko, gar von Bestechungsgeldern in
Höhe von 15 bis 30 Prozent der Vertragssumme. Ihm hätten Unternehmer offen
erklärt, dass sie keine Anzeige wegen Bestechung stellen wollten, weil sie
von dem Auftraggeber, dem staatlichen Konzern Energoatom, finanziell
abhängig gewesen seien.
## Offene Drohungen
Aus den vom NABU aufgenommenen Telefonmitschnitten geht auch hervor, dass
sich die Beschuldigten zudem überlegt hatten, Unternehmer mit der Drohung,
man würde alle Mitarbeiter für den Krieg mobilisieren, gefügig zu machen.
Chartschenko betonte weiter, dass die jüngsten Enthüllungen der Nationalen
Antikorruptionsbehörde (NABU) für Fachleute keine Überraschung seien. „Die
Zahlen, die NABU jetzt nennt, zeigen nur einen Bruchteil der Realität“,
erklärte der Experte. „Ich bin überzeugt, dass die tatsächlichen Summen
deutlich höher sind.“ Derzeit geht das NABU von Bestechungssummen im
dreistelligen Millionenbereich (Euro) aus.
Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht Timur Minditsch, ein Geschäftsmann
und langjähriger Partner von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Minditsch ist
Mitinhaber der Produktionsfirma Studio Kwartal 95, aus der Selenskyj einst
selbst hervorging. Nun steht Minditsch im Verdacht, Kopf einer
„hochrangigen kriminellen Organisation“ gewesen zu sein, die über Jahre
hinweg Schmiergeldsysteme in der Energiewirtschaft betrieb.
Doch als die Antikorruptionsbehörde NABU Timur Minditsch neben sechs
weiteren Verdächtigen am Montag festnehmen wollte, war dieser gemeinsam mit
einem weiteren Verdächtigen, Olexander Zukerman, schon längst über alle
Berge. Inzwischen ist Minditsch wohlbehalten in Israel angekommen. Wie er
es geschafft hatte, über die Grenze zu kommen, ist ein Rätsel.
## Höchstes Machtzentrum der Ukraine
Die Ermittlungen berühren das höchste Machtzentrum der Ukraine und das
Umfeld von Präsident Selenskyj. Unter den Verdächtigen ist neben dem
Selenski-Vertrauten Timur Minditsch auch der am Mittwoch vom Dienst
suspendierte Justizminister Herman Haluschtschenko und der frühere
Vizepremier Olexij Tschernyschow.
Unterdessen forderte auch Selenskyj Herman Haluschtschenko und
Energieministerin Switlana Hryntschuk zum Rücktritt auf. Er bitte die
Parlamentsabgeordneten, diese Gesuche zu unterstützen, sagte der Staatschef
in einer Videobotschaft. Am Dienstagnachmittag trat Hryntschuk zurück.
In den abgehörten Gesprächen tauchen Codenamen wie „Professor“, „Roket“,
„Karlsson“ und „Che Guevara“ auf. Letzterer soll laut Medienberichten
Tschernyschow meinen, der angeblich über Mittelsmänner mehr als 1,2
Millionen US-Dollar in bar erhielt.
In der Ukraine ist man über die nun bekannt gewordenen Vorwürfe entsetzt.
[2][Der Zeitpunkt dieser Enthüllungen könnte ungünstiger nicht sein], meint
Valerij Pekar, Vizepräsident des Ukrainischen Verbands der Industriellen
und Unternehmer auf seiner Facebook-Seite.
Die Lage an der Front sei kritisch, die Bevölkerung leide unter der
psychischen und physischen Belastung des Krieges, die dunkle und kalte
Jahreszeit habe begonnen, aktuell werde über das weitere Umgehen mit den
eingefrorenen russischen Vermögenswerten diskutiert. Das Land befinde sich
in einer Lose-lose-Situation. Der Detector.Media zitiert die Journalistin
Diana Goron. Sie befürchtet, dass es nun schwerer werde, finanzielle Hilfen
zu erhalten.
Der Energiesektor, einst das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft, habe
sich in ein korruptes, oligarchisches System verwandelt, beklagt der
Umweltschützer Oleh Savytskyj auf seiner Facebook-Seite. Nun sei es an der
Zeit für eine nachhaltige, transparente und von der Korruption befreite
Energiepolitik. Korruptionsbekämpfung allein reiche jedoch nicht aus. „Die
Zukunft liegt in einer dezentralisierten, digitalisierten und erneuerbaren
Energiearchitektur – mit aktiver Beteiligung von Gemeinden und
Unternehmen.“
12 Nov 2025
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