# taz.de -- Micha Brumliks Aufruf zum Protest 1992: Laßt uns mit Anstand von der Bühne der Geschichte gehen
       
       > Ein Aufruf an die bundesdeutschen Intellektuellen zum gemeinsamen
       > Protest. Gegen die im Herbst 1992 von der SPD mitgetragene Abschaffung
       > des Asylrechts.
       
 (IMG) Bild: 300.000 für den Frieden: die Demonstration 1982 im Bonner Hofgarten
       
       Dieser Text erschien erstmals am 8.9.1992 in der taz. Wir haben ihn aus
       Anlass des Todes von Micha Brumlik erneut publiziert. 
       
       Die Geschichte der bundesdeutschen Intellektuellen kann bald geschrieben
       werden, denn sie ist beinahe vorbei. Sie zeigt sich im Rückblick als
       dialektischer Prozeß, der durch Niederlagen gekennzeichnet war, die denn
       doch irgendwie zum Erfolg führten.
       
       Auf die verlorene Antinotstandskampagne folgte die in ihren
       kulturrevolutionären Aspekten siegreiche Studentenbewegung, auf die
       verlorene Antinachrüstungskampagne der Genscherismus und mit ihm das Ende
       des Kalten Krieges. Mit seinem Ende zerfielen die Gewißheiten ebenso wie
       die Solidaritäten: Golfkrieg und Bosnien entzweiten uns – in vielen
       Hinsichten wohl unwiderruflich.
       
       In diesen Konflikten, die weder der Bösartigkeit der Protagonisten noch der
       Dummheit der Streitenden geschuldet sind, kommt das zum Ausdruck, was der
       Philosoph John Rawls „the burdens of reason“ nennt: die Ambivalenz von
       Vernunft und Moral angesichts einer objektiv vieldeutigen Wirklichkeit.
       Aber nicht alles ist so vieldeutig wie die Lage am Golf und in Bosnien.
       
       In diesen Wochen und Monaten werden wir Zeugen eines unter dem Druck der
       faschistischen Straße angestoßenen Entscheidungsprozesses in der SPD, deren
       Vorsitzender entschlossen das Erbe des antinationalsozialistischen
       Widerstandes, das universalistische Unterpfand der alten Bundesrepublik,
       den Asylparagraphen 16 des Grundgesetzes, durch Ergänzung abschaffen will.
       
       Im vollen Bewußtsein, daß dies an den realen Problemen nichts ändern wird,
       plant ein Teil der SPD den Rückmarsch ins nationalstaatlich bornierte
       Vaterland. In dieser Situation sollte uns, den bundesdeutschen
       Intellektuellen, bei allen sonstigen Meinungsverschiedenheiten, etwa
       zwischen Bellizisten und Pazifisten, zwischen bedächtigen, strikt
       antinationalistischen Beobachtern des bosnischen Krieges und
       menschenrechtsorientierten Interventionisten, an einem geistigen
       Waffenstillstand gelegen sein.
       
       Wir sollten die Gelegenheit nicht verpassen, uns mit Anstand von der Bühne
       der deutschen Nachkriegsgeschichte zu verabschieden. Wie? Hier mein
       konkreter, wirklich ernstgemeinter Vorschlag: Damals, in Bonn, als es wider
       die Nachrüstung ging, waren wir 300.000, [1][die im Hofgarten protestierten
       und demonstrierten]. So viele werden sich kaum für die Fernen und Fremden,
       die Asylbewerber, einsetzen.
       
       Aber vielleicht werden es doch 50.000 sein. Und alle wären sie – wären wir—
       ein letztes Mal dabei: von [2][Walter Jens] zu [3][Henryk Broder], von
       [4][Günther Grass] zu [5][Martin Walser], von Lothar Baier zu Dunja Melcic,
       von [6][Jürgen Habermas] zu Cora Stephan, vom Komitee für Grundrechte und
       Demokratie zur Gesellschaft für bedrohte Völker, von Pax Christi zu den
       Ökolibertären.
       
       Wann und wo? Um elf Uhr an jenem Tag vor jener Halle, an dem der geplante
       Sonderparteitag der SPD den Marsch in eine andere Republik, ins deutsche
       Vaterland, beraten wird. Und vielleicht, wer weiß, haben wir dieses – ein
       letztes – Mal Erfolg. Der hessische SPD-Parteitag ermutigt dazu.
       
       Am Tag darauf werden wir dann das Kriegsbeil, also PC, Schreibmaschine und
       Füllfeder wieder auspacken und uns nach Herzenslust und – wie bisher – ohne
       jedes Risiko zur Freude des lesenden Publikums bekämpfen. Aber vielleicht –
       hoffentlich – in dem Wissen, unsere eigenste Obliegenheit, den Schutz der
       Republik, nicht vernachlässigt zu haben.
       
       11 Nov 2025
       
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