# taz.de -- Turnlegende Latynina: Ziemlich schmerzfrei
> Die Turnerin Larissa Latynina, erfolgreichste Frau bei Olympia, blickt
> auf ein komplexes Leben zurück. Es ist wohl eine sehr sowjetische
> Biographie.
(IMG) Bild: Latynina bei einem Wettkampf im Jahr 1961
Einmal hat jemand Larissa Latynina gefragt, ob sie denn eigentlich gern zum
Sport gegangen sei, oft würden ja die Eltern Kinder anmelden. Da musste die
1934 geborene Kunstturnerin Latynina, die erfolgreichste Frau aller Zeiten
bei Olympia mit 18 Medaillen, etwas schmunzeln. „Wir haben mit Sport viel
später angefangen. Wir haben einfach die Sportart ausgesucht, die uns
gefallen hat.“ Mit 12 Jahren war sie zum Turnen gekommen – das reichte
damals, um weltbeste Turnerin zu werden.
In ihrer [1][ukrainischen Heimatstadt Cherson] hatte sie beobachtet, wie
andere Mädchen eine Bodenübung zu Musik machten. Der Boden sollte Latyninas
Lieblingsdisziplin werden. Er erinnerte sie an ihren Traum, Ballerina zu
werden. Sie bat, mitmachen zu dürfen. Der Rest ist Geschichte.
Die Biografie der Turnlegende Latynina, die im Dezember ihren 91.
Geburtstag feiern wird, umspannt fast ein ganzes Jahrhundert
osteuropäischer Geschichte. Wie komplex die ist, zeigen schon Berichte über
sie: Manche nennen Latynina bis heute einen sowjetischen Star. Andere
nennen sie eine Russin.
Geboren und aufgewachsen aber ist sie in der Ukraine. Dort durchlitt sie
als Kind die deutsche Besatzung. Es war eine harte Kindheit: Latyninas
Vater [2][fiel bei Stalingrad], ihre Mutter musste in prekären Jobs
schuften. Die Athletin erinnerte sich, wie sie als Siebenjährige der
Hinrichtung von Partisanen auf der Hauptstraße beiwohnte. Wie sie vor
Hunger Schneeglöckchenzwiebeln ausgruben und aßen. Zum Turnsport kann sie
nur, weil er kostenlos ist.
## Bronze als Hürdenläuferin
Vielleicht ist in dieser Zeit der wahnsinnige Ehrgeiz und die
Leidensfähigkeit von Larissa Latynina entstanden. Als sie einmal beim
Wettrennen gegen Jungs hinten liegt, wirft sie sich mit den Händen voran
auf die Ziellinie, obwohl dort Glassplitter liegen, und brüllt über den
Schmerz hinweg: „Meine Hände waren als Erste da!“ Später am Sportinstitut
betreibt sie auch Leichtathletik, Volleyball, Basketball und Schwimmen.
Einmal muss Latynina dort für eine erkrankte Hürdenläuferin einspringen,
erzählt sie der russischen Agentur Tass. Auf Anhieb holt sie Bronze – aber
das Publikum habe sehr gelacht, denn sie sei gesprungen wie eine Turnerin.
Bemerkenswert im Sport findet Larissa Latynina, dass man den Schmerz nicht
mehr spürt, und auch das sagt wahrscheinlich viel. Wenngleich ihre Videos
heute wirken wie ein leichtes Aufwärmprogramm [3][für Simone Biles.] Es ist
Latynina, die die Dominanz sowjetischer Turnerinnen mit begründet. Schnell
wird sie nach Moskau geholt, wo sie bis heute lebt. Ihre Lieblingsmedaillen
sind die fünf WM-Goldmedaillen 1958 in Moskau. Sie holt sie, obwohl sie im
vierten Monat schwanger ist. Die Schwangerschaft hat sie vor allen
verborgen. Ihre kleine Tochter erzählt später gern: „Diese Medaillen haben
Mama und ich zusammen gewonnen.“
Nach ihrer Laufbahn wird Larissa Latynina von 1974 bis 1982 sowjetische
Nationaltrainerin, wieder irre erfolgreich. Und wählt später die russische
Staatsbürgerschaft. Als russische Athlet:innen jüngst wegen des
Staatsdopings unter neutraler Flagge antreten mussten, sagte Latynina: „Ein
Athlet ist persönlich verantwortlich. Wladimir Putin hat es richtig
formuliert: Warum muss das Land dafür haften?“ Und als russische
Athlet:innen wegen des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine nur
als Neutrale antreten dürfen, empörte sich Latynina darüber. Die Spiele in
Paris 2024 schaut sie nicht an. „Olympia verliert vieles ohne unsere
Turner:innen.“ Zumindest darin hat sie wohl recht.
Es hat sich da etwas verschoben in ihrer Sprache. Denn bis zum Kriegsbeginn
2014 kam Larissa Latynina laut ukrainischer Medien regelmäßig nach Cherson.
Auch schaute sie alle Wettbewerbe ukrainischer Sportler:innen: „Das hier
ist doch meine Heimat.“ Doch seit Kriegsbeginn kommt sie nicht mehr – und
schweigt eisern. Latyninas Leben ist wohl tatsächlich eine sehr sowjetische
Biografie.
27 Nov 2025
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## AUTOREN
(DIR) Alina Schwermer
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