# taz.de -- Buch über Maoisten im Osten Indiens: Wenn Kaste zu Klasse wird
> Alpa Shah erzählt in „Nachtmarsch“, wie sie sich einer maoistischen
> Guerillatruppe in Indien anschloss. Sie will deren Erfolg bei Indigenen
> verstehen.
(IMG) Bild: Junge Maoisten trainieren im Jahr 2008 in den dichten Wäldern von Daltanganj, im Osten Indiens
Wie kommt eine britische Wissenschaftlerin dazu, mit einem Trupp
maoistischer Guerillakämpfer einen Nachtmarsch über 250 Kilometer durch die
bewaldeten Hügel Ostindiens zu unternehmen? Sich dabei als männlicher
Soldat zu verkleiden und sieben Nächte lang der Verfolgung durch
Spezialkräfte der Regierung gewärtig sein zu müssen?
Eine Antwort findet sich in der Biografie von Alpa Shah, deren Eltern und
Großeltern aus dem indischen Gujarat nach Kenia und später nach England
emigrierten. Shah richtete als Ethnologin ihr Forschungsinteresse auf die
„Adivasi“ (Ureinwohner) Ostindiens und lebte insgesamt viereinhalb Jahre
unter ihnen. Die maoistischen Guerillas hielt sie zunächst für bloße
Schutzgelderpresser, bis sie feststellte, dass sie in der indigenen
Bevölkerung tief verwurzelt waren.
Warum gewähren indische Indigene maoistischen Guerilla-Kämpfern
Unterschlupf und Unterstützung? Die Gründe dafür lassen sich in Shahs
Studie „Ground down by Growth“ („Durch Wachstum geschleift“) von 2017
nachlesen. Zusammen mit ihrem Co-Autor Jens Lerche kommt Shah dort zu dem
Ergebnis, dass Indien sich im Zuge der Globalisierung zu einem tief
gespaltenen Land entwickelt hat, dessen Unterklassen nach einer rasanten
Industrialisierung unter noch schlechteren Bedingungen leben müssen als
zuvor.
## Kaste wird zur Klasse
Wer nicht zu den gehobenen Kasten der vorindustriellen Ordnung gehörte, ist
auch in den Fabriken, Bergwerken und Baustellen des neuen Indien in
ungelernter, prekärer und besonders stark ausgebeuteter Arbeit tätig. Kaste
wird zu Klasse. Hinzu kommt, dass die wenigen Sicherheiten verschwunden
sind, die die unfreie Arbeit auf den Plantagen und in den Haushalten der
Wohlhabenden den Dalits in der Vergangenheit boten. Die Adivasi wiederum
haben durch das Vordringen von Bergwerken und Fabriken auf ihre
angestammten Gebiete vielerorts die Möglichkeit zum traditionellen
Wanderfeldbau, zur Jagd und zum Sammeln von Früchten verloren.
Shah wollte wissen, wie die „Naxaliten“, wie sich die maoistische Bewegung
nach einem Aufstand in Naxalbari 1967 nennt, in diesem Umfeld erfolgreich
werden konnten und wie eine solche Untergrundarmee funktioniert. So kam es
zu ihrer Teilnahme am Marsch eines Trupps, der sich, um der Verfolgung
durch die Spezialkräfte der Regierung zu entgehen, durch die unwegsame
Hügellandschaft Ostindiens bewegte. Die sieben Nächte des Marschs schildert
Shah in der Form eines Reiseberichts. Von einzelnen ihrer Erlebnisse lässt
sie sich zu grundsätzlichen Überlegungen zu den Merkmalen und Problemen der
naxalitischen Untergrundarmee anstoßen, die sie in ihren Bericht einfügt.
Shah erzählt davon, wie sie Kontakt zum Anführer des Trupps herstellt, wie
sie, unterbrochen von einem bedrohlichen Aufmarsch der Spezialkräfte, in
ein geheimes Militärlager der Naxaliten gebracht wird, wie sich der Marsch
mit seinem Gleichschritt, seinen Kommandos, den Ruhepausen gestaltet. Sie
berichtet von Erschöpfung und Gefahr. Ihre Schilderungen lesen sich
streckenweise wie ein Abenteuerroman.
## Wie ein Fisch im Ozean
Dass sich die Naxaliten mit der indigenen Bevölkerung so eng haben
verbinden können, liegt – so findet Shah heraus – vor allem daran, dass die
Bewegung konsequent die Probleme der Adivasi adressiert und deren
Lebensweise Respekt entgegenbringt. So können sich die Guerillas, [1][wie
einst von Mao gefordert], unter den Indigenen bewegen „wie ein Fisch im
Ozean“.
Als der Trupp einmal in die Nähe einer Siedlung kommt, werden Boten
ausgeschickt, die 30 Familien auffordern, ihr Abendessen mit den Guerillas
zu teilen – das klappt. Die Entscheidung der Naxaliten, ihre politischen
Ziele unter Einsatz von Gewalt zu verfolgen, verurteilt Shah nicht
grundsätzlich, zeigt aber die negativen Konsequenzen auf: Immer stärker
müssen sich die Aktivist:innen mit militärischen Fragen befassen, auf
Kosten der Weiterentwicklung ihres politischen Programms. Die oft
betrügerische oder gewaltsame Akquise finanzieller Mittel bringt einen
Typus korrupter Funktionäre mit zweifelhafter Loyalität hervor.
Gegen diese Tendenz steht der von Shah mit großer Wärme gezeichnete
Anführer Gyanji, der – seinem Aufwachsen in einer gehobenen Kaste
ungeachtet – ein bescheidenes und den Zielen der Bewegung gewidmetes Leben
führt. Seine persönlichen Aussichten sind düster: Irgendwann werden die
Spezialkräfte der Regierung ihn aufspüren und er wird in einem ihrer
geheimen Gefängnisse den Tod finden. Warum nimmt er das in Kauf? Shah
vermutet, dass er vom Ethos der Selbstopferung geleitet wird, das seiner
Kaste eigen ist.
Zur Jahrtausendwende noch bildete [2][der Widerstand der maoistischen
Guerillas in Ostindien ein Hindernis für den Abbau von Bodenschätzen], wie
die britische Zeitung The Guardian damals berichtete. Das hat sich
geändert. Die Guerillas konnten den staatlichen Maßnahmen gegen sie nicht
standhalten und die Kultur der Adivasi nicht den ökonomischen und
gesellschaftlichen Entwicklungen. Shahs Innenansichten einer politischen
Bewegung im Niedergang und einer sterbenden Kultur erinnern daran, wie die
Wirtschaftsweise der Industrieländer den globalen Süden überrollt hat.
Obwohl Shah auf die problematischen Aspekte der naxalitischen Bewegung
hinweist, ist unübersehbar, dass der Gegner ihrer Ausführungen die indische
Regierung ist, deren Politik sie 2024 im New Statesman als faschistisch
bezeichnete. Im selben Jahr prangerte sie mit ihrer Veröffentlichung „The
Incarcerations“ („Die Einkerkerungen“) die Inhaftierung indischer
Oppositioneller unter fadenscheinigen Vorwänden an. Regelmäßig publiziert
sie in britischen Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen.
Wissenschaft zu betreiben, bedeutet für Alpa Shah auch, Aktivistin zu sein.
„Nachtmarsch“ ist ein außerordentlich kluges und politisch wie menschlich
engagiertes Buch, das der Autorin seit seinem Erscheinen in Großbritannien
2018 zahlreiche Preise und eine Berufung an die Universität Oxford
eingebracht hat. Etwas verspätet erscheint „Nachtmarsch“ nun in Deutschland
und findet hoffentlich auch hier eine interessierte Leserschaft.
16 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Geschichte-des-Maoismus/!5964629
(DIR) [2] /Indigene-verhindern-Mine-in-Indien/!5060865
## AUTOREN
(DIR) Renate Kraft
## TAGS
(DIR) Indien
(DIR) Mao Tsetung
(DIR) Guerilla
(DIR) Indigene
(DIR) Indien
(DIR) China
(DIR) Schwerpunkt Klimawandel
(DIR) Reiseland Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Tod eines Maoisten: Die Jagd auf Indiens meistgesuchten Rebellen ist beendet
Der gefürchtete indigene Guerillakämpfer Madvi Hidma wurde beigesetzt.
Damit neigt sich Indiens jahrzehntelanger maoistischer Aufstand dem Ende
zu.
(DIR) Geschichte des Maoismus: Karriere eines Totalitarismus
Die britische Sinologin Julia Lovell analysiert in ihrer preisgekrönten,
monumentalen Globalgeschichte „Maoismus“ den weltweiten Einfluss Mao
Zedongs.
(DIR) Aktivistin über Klimakrise und Widerstand: „Der Wald war schöner als die Disco“
Vandana Shiva ist eine der berühmtesten Umweltaktivistinnen. Ein Gespräch
über Gandhi als Vorbild, grüne Gentechnik und Angriffe auf ihre Person.
(DIR) Nur mit Reisegenehmigung: Indiens Korridor nach Tibet
Sikkim ist immer noch militärisch bewachte Grenzregion. Das Land mit dem
dritthöchsten Berg der Welt bietet uralte Kultur und atemberaubende
Landschaften.