# taz.de -- Sechs Monate Merz: Bis zum Ziel ist noch an Tempo zuzulegen
       
       > Kanzler Merz hat ambitioniert sein Amt angetreten. Nicht nur der
       > Koalitionspartner, sondern auch eigene Leute treten aber immer wieder auf
       > die Bremse.
       
       Die Welt ist in Unordnung. Hier der Nahostkonflikt, da der Krieg Russlands
       gegen die Ukraine. Dann ein auftrumpfendes China, ein unberechenbarer
       US-Präsident. Berlin fährt auf Sicht. Eine klare europäische Linie gibt es
       in dieser weltpolitischen Großkrise bislang nicht. Probleme drohen nicht
       nur von jenseits der Grenzen. Der deutschen Wirtschaft geht es schlecht und
       Rechtsextreme sind auf dem Vormarsch. Sechs Monate nach Amtsantritt der
       Regierung von Friedrich Merz hat sich an dieser Lage noch nicht viel
       geändert.
       
       Ist der 70-jährige Politrückkehrer der Richtige, das Land im Inneren
       zusammenzuhalten, es wirtschaftlich auf Kurs zu bringen und international
       wieder zum respektierten Player zu machen? In der Außenpolitik jedenfalls
       hat der neue Kanzler einen guten Start hingelegt. Da musste er nicht
       warten, bis alle Fraktionssprecher gewählt oder Ministerien besetzt waren,
       sondern nur in ein Flugzeug steigen. Die erste Reise führte ihn [1][zu
       Emmanuel Macron], noch am selben Tag ging es weiter nach Polen.
       
       Er machte also sein Versprechen wahr, das Weimarer Dreieck wiederzubeleben.
       Sogar mit Donald Trump stimmt die Chemie zunächst bilateral und dann nach
       dem Alaska-Gipfel mit Wolodymyr Selenskyj und den europäischen Partnern.
       Das gilt als Erfolg und als willkommener Kontrast zu dem als eher
       indifferent empfundenen Agieren seines Vorgängers. Als Merz nach langer
       Abstinenz wieder in die Politik einstieg, war es die feste Überzeugung:
       „Ich kann es besser“, die ihn antrieb.
       
       Besser im Vergleich zu Angela Merkel, besser im Unterschied zu Olaf Scholz.
       Glaubt man aktuellen Umfragen, sind die Deutschen davon nicht wirklich
       überzeugt. Im Gegenteil: [2][Etwa 70 Prozent der Befragten] sehen die
       Arbeit der neuen Koalition kritisch. Die Ursachen für das Störgefühl
       zwischen Regierung und Publikum sind vielfältig und liegen nicht nur in der
       Verantwortung des Kanzlers, sondern gehen oft auf Versäumnisse der
       Vorgänger zurück.
       
       ## Die Wirtschaft ächzt und stöhnt
       
       Hinter bundesrepublikanischer Selbstgewissheit verbirgt sich ein riesiger
       Reformstau: in der Sozialpolitik, bei der Bundeswehr, bei Integration und
       Zuwanderung, der Infrastruktur und Digitalisierung. Hinzu kommt eine
       widersprüchliche Klima- und Energiepolitik. Das dritte Jahr in Rezession.
       Produktionseinbrüche in der Auto- und Stahlindustrie. Massenentlassungen
       drohen, zum Beispiel bei Bosch, VW und auch der Lufthansa. Die Wirtschaft
       ächzt unter Abgabenlast und Überbürokratisierung.
       
       „Dies ist ein Tiefpunkt in der Nachkriegszeit“, sagt Arndt Kirchhoff,
       Vorsitzender des Aufsichtsrats eines familiengeführten mittelständischen
       Automobilzulieferers, der weltweit gut 14.000 Angestellte beschäftigt. Der
       Wettbewerb sei bedroht durch zu hohe Energiepreise und zu viel Bürokratie.
       Merz weiß das. Und sein Vize Lars Klingbeil (SPD) auch. Doch die ersten
       Maßnahmen aus dem Sofortprogramm der Regierung, wie steuerliche
       Entlastungen für Unternehmen, scheinen noch keine Früchte zu tragen.
       
       Dringend benötigte private Investitionen bleiben aus. Nur so könnte echtes
       Wirtschaftswachstum angekurbelt werden, nur so können neue Arbeitsplätze
       geschaffen werden. Wirtschaftsvertreter pochen deshalb refrainartig auf den
       versprochenen Politikwechsel und die Senkung der Abgabenlast. Umfassende
       Reformen, etwa bei Rente, Gesundheit und Pflege, wurden jedoch in
       Kommissionen verlagert. Der Abschied von der Rente mit 63, Zuzahlung in
       Arztpraxen, das alles sei mit der SPD nicht zu machen, raunt es in der
       Union.
       
       Wie sehr blockiert der Koalitionspartner Reformen, die nötig wären, um das
       Land zukunftsfähig zu machen? Klingbeil selbst sagt, der größte Fehler
       dabei sei das Festhalten am Status quo. Doch das sehen nicht alle so in
       seiner Partei. Geld ausgeben, das wir nicht haben? Das Dilemma ist: Was
       hinterlässt man nachfolgenden Generationen: einen Schuldenberg oder ein
       kaputtes Land? Am besten nichts von beidem, möchte man rufen! Nur, wie soll
       das gehen?
       
       ## Hakeleien wie zu Ampel-Zeiten
       
       Diese neue Koalition beginnt mit Schulden, bevor sie überhaupt im Amt ist.
       Ein 500-Milliarden-Sondervermögen und weitere Milliarden für die Bundeswehr
       werden noch vom alten Bundestag auf den Weg gebracht. Die Union, die zuvor
       auf Sparen und Haushaltsdisziplin setzte, muss sich Wahlbetrug vorwerfen
       lassen. Schwarz-Rot wollte eigentlich alles anders und besser machen als
       die ewig streitende Ampel.
       
       Dennoch prägen Hakeleien zwischen den Koalitionspartnern das Bild auch
       dieser Regierung – etwa bei der [3][Wahl der Bundesverfassungsrichter], bei
       der Frage, wer den Hut aufhat bei der Neugestaltung des Bürgergeldes, oder
       der Reform des Wehrdienstes. Bei solchen Pannen merkt man immer wieder,
       dass Regierungserfahrung fehlt. Das trifft auf Kanzler und Vizekanzler
       genauso zu wie auf die Mehrheit des Kabinetts. Auch manche
       Personalentscheidung irritiert.
       
       Wäre Thorsten Frei nicht der geeignetere Fraktionsvorsitzende als der
       streitbare Jens Spahn? Und braucht es nicht auch im Kanzleramt erfahrene
       Strippenzieher, wie sie beispielsweise in den Staatskanzleien der Länder
       heranreifen? Der Aufstand der [4][Jungen Gruppe] der Union zu den
       Rentenplänen ist so ein Beispiel. Wo war das Frühwarnsystem? Hier zeigt
       sich, dass man in der CDU-geführten Regierungszentrale seine Hausaufgaben
       nicht gemacht hat.
       
       Hätte man nicht sonst die Fallstricke des SPD-Entwurfs rechtzeitig erkannt?
       Auch in der Kommunikation des Kanzlers kommt es immer wieder zu Pannen.
       Lang ist die Liste der verbalen Fettnäpfchen aus der Oppositionszeit. Im
       neuen Amt ist die Sprache von Merz immer noch direkt, aber zumindest bei
       vorbereiteten Reden konzilianter geworden, versöhnlicher. Dennoch sorgen
       immer wieder Äußerungen, die nicht abgestimmt oder verfrüht waren, für
       Irritationen, etwa zu [5][Waffenlieferungen an Israel] oder zum
       Mercosur-Pakt.
       
       ## Kulturkampf auf Hochtouren
       
       Und dann das [6][Stadtbild]. Wie beiläufig hatte der Kanzler „Das Problem
       im Stadtbild“ in den Zusammenhang mit illegaler Migration gestellt und
       präzisierte später, dass er das keinesfalls als Beschimpfung aller
       Migranten meinte. Die aufgeregte Debatte bestätigt all jene, die in dem
       Sauerländer nur den Polarisierer sehen, Mr Blackrock, der mit dem
       Privatflieger unterwegs ist und der lange Jahre offene Gegnerschaft pflegte
       zu der einst auch in linken Kreisen beliebten [7][Kanzlerin].
       
       Der Kulturkampf der links-grünen Opposition gegen den nicht gerade woken
       CDU-Kanzler läuft auf Hochtouren. In diesen innen- wie außenpolitisch bis
       zum Zerreißen angespannten Zeiten hat Merz nur eine Chance: Vertrauen
       aufbauen. Anders als bei Staatsbesuchen ist der Regierungsalltag im Inland
       mühsam, wenig glamourös. In der Innenpolitik gibt es eben keinen roten
       Teppich.
       
       Es ist eine Ironie der Zeitläufte, dass einer wie Merz, der politisch in
       den 70er und 80er Jahren sozialisiert wurde, Innovation nach Deutschland
       bringen soll. Eine Herkulesaufgabe. Denn das Land wirkt derzeit so
       ambitionslos wie der [8][BER], schwerfällig, etwas altmodisch,
       überschuldet, freudlos. Friedrich Merz ist durch Karriere und Auftreten die
       personalisierte Diskontinuität.
       
       Den einen macht es Angst, dass da einer inhaltlich und sprachlich mit dem
       bricht, was sich in den letzten Jahrzehnten bundesrepublikanischer
       Konsensgesellschaft und Political Correctness etabliert hat. Andere
       versprechen sich genau davon Disruption, eine Art institutionalisiertes
       Störgefühl, das das Potenzial hat, das veränderungsunwillige Land endlich
       in den Reformmodus zu versetzen. Merz ist eher Einzelkämpfer, oftmals stur,
       bisweilen auch rechthaberisch.
       
       ## Das Schwerste liegt noch vor ihm
       
       Zupass käme ihm gewiss ein präsidiales Regieren, top down, mit Executive
       Orders – Washington lässt grüßen. Doch ist das nicht vorgesehen in der
       deutschen parlamentarischen Demokratie. In der ist ein Kanzler eben nicht
       nur Einpeitscher, sondern auch als Moderator gefordert, der zwischen den
       Prioritäten seiner Partei und den Sensibilitäten seiner Koalitionspartner
       vermitteln muss. Das gelingt mal mehr, mal weniger. Profiteur ist die AfD,
       die die Union auf Bundesebene in den Umfragen überholt hat.
       
       2026 anstehende Landtagswahlen verheißen nichts Gutes. Jeder Streit, jede
       Uneinigkeit scheint nur eines zu begünstigen: den Aufstieg der Konkurrenz
       von rechts außen. Diese Legislaturperiode sei die letzte Chance für eine
       Politik der Mitte, das sagt Merz immer wieder. Hierin sieht er auch seine
       historische Mission. Die Instrumente, die zur Abwehr der „Gefahr von
       rechts“ zur Verfügung stehen, bleiben umstritten. Hilft es, die Brandmauer
       höher zu ziehen oder sie niederzureißen?
       
       AfD-Wähler zurückgewinnen oder Themen beiseitelegen, um wieder zur linken
       Mitte zu schwenken? Sogar manch Vertreter des Merkel-Lagers tut sich hier
       schwer mit einem klaren Votum. Es bereitet fast körperliche Schmerzen, wie
       die deutsche Politik sich von der AfD treiben lässt, wie sie zur
       Referenzgröße politischen Handelns wird.
       
       Die Welt ist in Unordnung. Und Deutschland braucht einen Neuanfang. Kann
       ein Bundeskanzler Merz für unser Land die [9][Zeitenwende schaffen, die bei
       Scholz in der Ankündigung steckenblieb]? Für seinen unbedingten Willen zum
       Erfolg spricht immer noch dieser beispiellose Aufstiegskampf an die Spitze
       der Partei – und dann des Landes. Das, was er hinter sich hat, ist
       allerdings nichts im Vergleich zu dem, was noch vor ihm liegt.
       
       24 Nov 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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