# taz.de -- Hirnforscher über Homeoffice: „Unser Gehirn belohnt persönlichen Kontakt“
       
       > Kassenautomaten im Supermarkt, soziale Medien und Homeoffice: Menschen
       > begegnen sich immer weniger, sagt Ben Rein. Was sich dagegen tun lässt.
       
 (IMG) Bild: Abhängen mit Freund:innen im Park? Darüber freut sich unser Hirn
       
       taz: Herr Rein, schön, dass wir uns sehen. Sie sagen, das sei gut für unser
       Gehirn? 
       
       Ben Rein: Unser Hirn ist auf Kontakt programmiert. Viele Aktivitäten, die
       früher persönlichen Kontakt erforderten, werden nun automatisiert. Wenn Sie
       zur Bank gehen, gehen Sie zum Geldautomaten anstatt zum Bankschalter.
       Arbeit findet immer öfter isoliert von zu Hause aus statt. Früher haben Sie
       vielleicht in einem Restaurant gesessen und mit dem Kellner gesprochen.
       Jetzt stellen Ihnen die Leute Ihr Abendessen einfach vor die Tür. Die
       Abwesenheit all dieser kleinen Interaktionen reduziert etwas, das ich
       unsere soziale Diät nenne. Diese ärmere soziale Diät hat dazu geführt, dass
       wir weniger Interaktion untereinander erwarten.
       
       taz: Welche Rolle hat die Pandemie dabei gespielt? 
       
       Rein: Auch sie hat unsere soziale Diät ärmer werden lassen. Neben der
       Automatisierung ist die Pandemie der zweite große Faktor dieser
       Entwicklung. Das Gehirn macht ständig Vorhersagen darüber, was in der Welt
       um uns herum passiert. Es weiß, wie viel Nahrung wir zu uns nehmen werden,
       wie viel Schlaf wir bekommen werden, wie viel sozialen Kontakt wir haben
       werden.
       
       Das basiert auf unseren bisherigen Erfahrungen. Als dann Covid ausbrach und
       alle in Quarantäne oder Isolation geschickt wurden, war es, als würden in
       unserem Gehirn Alarmglocken läuten: Oh mein Gott, das ist so viel weniger
       sozialer Kontakt, als ich gewohnt bin. Ich fühle mich so einsam. Die Zahlen
       belegen, dass während der Pandemie soziale Isolation zu höheren Werten bei
       [1][Depressionen] und Angstzuständen geführt hat. Doch nach einigen Monaten
       hat sich das Gehirn an die neue Realität angepasst.
       
       taz: Man gewöhnt sich an [2][Einsamkeit]? 
       
       Rein: Wenn ich zuvor damit gerechnet habe, meine Kolleg:innen sieben bis
       zehn Stunden pro Woche zu sehen, waren es während der Pandemie null
       Stunden. Jetzt, da die Pandemie für die meisten Menschen vorbei ist, haben
       wir uns auf ein niedrigeres Level an sozialem Kontakt eingestellt.
       
       taz: Wenn ich in einer überfüllten U-Bahn sitze und dabei viel zu viele
       Menschen höre, bin ich froh über Hilfsmittel wie geräuschunterdrückende
       Kopfhörer. Kann es manchmal auch sinnvoll sein, die soziale Diät zu
       verarmen?
       
       Rein: Es ist natürlich okay, in einer unangenehmen Umgebung die
       sensorischen Reize zu unterdrücken. Wir haben aber eine sehr lange
       Evolutionsgeschichte, in der wir als Gruppe sehr gut überleben konnten.
       Unser Gehirn ist so verdrahtet, dass wir es als belohnend und angenehm
       empfinden, mit anderen zusammen zu sein. Die dabei involvierten
       Neurotransmitter heißen Oxytocin, Dopamin und Serotonin, sie sind
       umgangssprachlich auch als Glückshormone bekannt.
       
       taz: Was passiert, wenn der Kontakt, also die Glückshormone ausbleiben? 
       
       Rein: Isolation aktiviert das Stressreaktionssystem, was sich negativ auf
       die Gesundheit auswirkt. Wenn der Stress chronisch wird, wird es wirklich
       problematisch. [3][Einsame Menschen] haben ein höheres Risiko für Diabetes,
       Depressionen, Angstzustände, Demenz und Suizid. Betrachtet man allein die
       Sterberate, haben einsame Menschen ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko, zu
       sterben. Diese Ergebnisse stammen aus Langzeitstudien mit Hunderttausenden
       von Menschen. Es ist tatsächlich so, dass wir uns durch scheinbar harmlose,
       unbedenkliche Entscheidungen, wie am Freitagabend zu Hause zu bleiben,
       nicht im Büro zu arbeiten oder unsere Lebensmittel online zu bestellen,
       wenn sie sich dauernd wiederholen, einem Gesundheitsrisiko aussetzen.
       
       taz: In Ihrem Buch schreiben Sie aber auch, dass unser Gehirn einige
       Merkmale aufweist, die uns daran hindern, empathisch miteinander umzugehen. 
       
       Rein: Empathie ist die Fähigkeit, die Emotionen einer anderen Person zu
       verstehen und selbst zu spüren. Kommunikation durch Empathie war früher
       unglaublich hilfreich für das Überleben in Gruppen. Wenn man zum Beispiel
       die Wut von jemandem spürt, der kurz davor ist, einen Streit anzufangen,
       kann man eingreifen und den Streit verhindern, bevor er ausbricht. Aber
       stellen Sie sich vor, Sie treffen auf ein Mitglied einer rivalisierenden
       Gruppe, das verletzt am Boden liegt. Für Sie wäre es besser, der Person
       nicht zu helfen. Ihr Gehirn ist also besser dran, wenn es sich nicht in die
       Person hineinversetzt und ihren Schmerz spürt.
       
       taz: Das war vor vielen tausenden von Jahren. Helfen uns solche
       Übertragungen heute überhaupt noch? 
       
       Rein: Wir leben in einer gänzlich anderen Welt. Aber die Hardware unseres
       Gehirns ist immer noch dieselbe. Das beweist die Forschung. Menschen zeigen
       weniger Empathie für Unbekannte, wenn sie einer anderen Religion angehören,
       eine andere politische Einstellung haben, eine andere sexuelle Orientierung
       oder Hautfarbe. Wenn Menschen eine Trennlinie zwischen sich und Unbekannten
       ziehen können, werden die Hirnareale, die Empathie steuern, nicht so stark
       aktiviert.
       
       Deshalb macht mir die zunehmende Polarisierung, wie ich sie in den USA
       beobachte, Angst. Wenn ich einen neuen Nachbarn habe und mich in gutem
       Willen vorstellen will, aber dann sehe, dass im Vorgarten die Flagge einer
       Partei gehisst wurde, die ich nicht gut finde, wird mein Gehirn der Person
       weniger Empathie entgegenbringen.
       
       taz: Anders als vor tausenden von Jahren können wir heute das Leid auf
       entfernten Kontinenten in Echtzeit in unserem Social-Media-Feed verfolgen.
       Es gibt Studien, die zeigen, dass es da auch ein überforderndes Maß an
       Empathie geben kann. Das führt dazu, dass wir ausbrennen oder abschalten.
       Wie finden wir das richtige Maß?
       
       Rein: Ich habe darauf auch keine Antwort. Während der Ausbildungszeit von
       Ärzten beispielsweise nimmt ihre Empathie immer weiter ab, da sie ständig
       mit Schmerz und Leid konfrontiert sind. Ihr Gehirn lernt, sie davor zu
       schützen, da es erkannt hat, dass zu viel Empathie überfordernd ist und
       somit nicht zielführend. Wir werden in einer global vernetzten Welt ständig
       mit Leid konfrontiert, gegen das wir nichts tun können. Für mich bleibt
       trotzdem das bestmögliche Szenario, dass wir unsere Empathie beibehalten.
       
       taz: Ist unser Gehirn in der Lage, angelernte Muster wie Sexismus und
       Rassismus aktiv zu verlernen? 
       
       Rein: Dazu gibt es einen interessanten Bericht aus den USA. Ein Neonazi
       meldet sich freiwillig für eine Studie, in der untersucht werden sollte,
       wie MDMA das Wohlbefinden bei Berührungen verändert. MDMA, auch als Ecstasy
       bekannt, ist eine der wenigen Drogen oder Medikamente auf der Welt, die
       Empathie fördern. Er nahm also an dieser Studie teil, die überhaupt nicht
       seine Ansichten zum Thema hatte, und kam völlig wesensverändert daraus
       hervor.
       
       Er bedankte sich bei den Wissenschaftlern, sagte, dass Liebe die Antwort
       auf alles sei, und identifizierte sich nicht mehr als Neonazi. Für mich
       verdeutlicht diese Geschichte die Bedeutung von Empathie. Wenn man andere
       Menschen als Menschen wie sich selbst betrachten und ihre Emotionen
       nachempfinden kann, macht das sie menschlich.
       
       taz: Kostenloses MDMA für alle Neonazis. Das klingt gut, aber … 
       
       Rein: … ist natürlich kein Allheilmittel gegen Diskriminierung. Aber MDMA
       fördert die Ausschüttung von Neurotransmittern, die für soziale
       Interaktionen wichtig sind und die auch ohne MDMA in unserem Gehirn wirken.
       Wenn eine Droge uns dorthin bringen kann, indem sie einfach unsere
       Neurochemie verändert, warum könnten dann nicht auch unsere Erfahrungen
       oder unser Verhalten uns dorthin bringen, indem wir unsere Neurochemie auf
       ähnliche Weise verändern? Tatsächlich gibt es Nachweise dafür, dass man
       seine Empathie trainieren kann, und zwar auf eine Weise, dass sich das
       Aussehen und die Struktur des Gehirns ändert. Es gibt einen Weg nach vorne,
       aber dieser erfordert Anstrengung.
       
       taz: So wie Sie über das Gehirn reden, klingt es, als seien wir Menschen
       Roboter, gesteuert durch einen Hirncomputer, der sich durch Chemie nach
       Bedarf verändern lässt. Lässt sich wirklich alles im Menschen durch
       Neurochemie erklären? 
       
       Rein: Ich glaube, letztendlich läuft alles auf die Neurophysiologie hinaus.
       Ich betrachte das Gehirn tatsächlich wie einen Computer, und jede
       Erfahrung, die wir machen, und jedes Gefühl kann durch elektrochemische
       Signale erklärt werden, die in diesem Moment in unserem Gehirn stattfinden.
       Ich denke viel darüber nach, wie es wäre, wenn unsere Gehirne transparent
       wären. Wenn ich einen Moment religiöser Inbrunst erlebe, oder eine andere,
       bewegende, lebensverändernde Erfahrung, und dann einen Schnappschuss vom
       transparenten Gehirn mache, hätte ich die mit diesem Gefühl verbundene
       Neurochemie.
       
       Aufgrund der Komplexität unserer Neurobiologie sind zwar Zustände möglich,
       die unerklärlich erscheinen. Vielleicht werden wir niemals mithilfe von
       Bildgebungsverfahren des Gehirns Mystik verstehen können. Ich glaube aber
       nicht, dass es etwas gibt, das über das hinaus geht, was im Gehirn
       passiert.
       
       taz: Wir haben schon sehr viel von sozialer Interaktion gesprochen: Macht
       es einen Unterschied für das Gehirn, ob ich jemandem gegenübersitze oder
       wir per Smartphone sprechen? 
       
       Rein: Dazu gibt es leider wenig Studien. Aber ich sehe es so: Wenn wir von
       persönlichen Treffen zu Videokonferenzen übergehen, verlieren wir den
       Blickkontakt. Wenn wir von Videokonferenzen zu Telefonaten übergehen,
       verlieren wir Mimik und Körpersprache. Wenn wir vom Telefonat zur
       Textnachricht wechseln, verlieren wir den Tonfall. So verlieren wir Stück
       für Stück auch die Hinweise, die unserem Gehirn mitteilen, dass wir mit
       einem anderen Menschen interagieren. Diese sozialen Signale sind aber
       wichtig für unsere Empathie.
       
       taz: Geht es deshalb in den sozialen Medien und auch sonst online oft so
       hässlich zu? 
       
       Rein: Ja. Unsere Empathiesysteme im Gehirn schalten sich aus und wir neigen
       viel eher zu feindseligem Verhalten. Das geht Hand in Hand mit dem
       Ausbleiben von einem Gefühl von Belohnung, das wir oft nach realen
       Interaktionen spüren. Dazu gibt es zwar noch keine neurologischen Belege,
       aber nachweislich sind Menschen glücklicher, wenn sie mit echten Menschen
       interagieren, als online.
       
       taz: Ob wir sozialen Kontakt fördern, ist auch eine politische
       Entscheidung, zum Beispiel in der Frage, wie Städte geplant werden. Welche
       Veränderungen auf dieser Ebene brauchen unsere Gehirne, damit wir mehr
       Freunde finden? 
       
       Rein: In der Gesundheitspolitik gibt es Bemühungen, Missstände anzugehen
       wie beispielsweise, dass nicht alle Menschen genug zu essen haben. Wir
       brauchen ähnliche Bemühungen auch bei emotionalen Missständen – wie der
       zunehmenden Isolation. In einem Museum in meiner Heimatstadt gibt es zum
       Beispiel ein monatliches Treffen für Menschen mit Gedächtnisproblemen. Da
       treffen sich Leute, die sonst nicht so viel aus dem Haus gehen, und
       unterhalten sich. Soziale Interaktion kann eine Form der
       Gesundheitsförderung sein.
       
       25 Nov 2025
       
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