# taz.de -- Kriminologin zu Drogenhandel in Belgien: „Irgendwann müssen wir eine offene Debatte beginnen“
       
       > Haben Drogenbanden Belgien „unterwandert„und zum „Narco“-Staat gemacht?
       > Kriminologin Letizia Paol plädiert für Differenzierung.
       
 (IMG) Bild: Das Tor zur Welt im Narkostaate Belgien
       
       Ende Oktober hat eine Untersuchungsrichterin in Belgien für Schlagzeilen
       gesorgt: In einem anonymen Brief warnte sie – wegen Morddrohungen selbst
       mehrere Monate untergetaucht – vor Drogenbanden, die „staatliche
       Einrichtungen unterwandern“ würden. Die „weit verbreiteten mafiösen
       Strukturen“ zeigten, dass Belgien sich zu einem „Narco-Staat“ entwickele. 
       
       Letizia Paoli, Professorin für Kriminologie an der Katholischen Universität
       Leuven in Belgien, plädiert für Differenzierung. 
       
       taz: Frau Paoli, was dachten Sie, als Sie den offenen Brief der Richterin
       lasen? 
       
       Letizia Paoli: Dass es ein guter Brief ist. Ich hoffe, er zeigt Wirkung.
       Staatsanwälte und Richterinnen müssen angemessenen Schutz erhalten. Wobei
       ich nicht denke, dass sie anonym arbeiten sollten, wie es der Brief
       fordert. Anwält*innen müssen doch wissen, wer die Richter*innen sind.
       Stattdessen könnten sie in Teams arbeiten, sodass nicht nur eine Person im
       Fokus ist. Sonst unterstütze ich den Brief vollkommen. Ich habe aber
       Zweifel an dem Schluss, dass Belgien ein „Narco-Staat“ wird.
       
       taz: Warum? 
       
       Letizia Paoli: Der Begriff wird in der belgischen Debatte benutzt, um ein
       Problembewusstsein zu schaffen und die Politik zum Handeln zu aktivieren.
       Aber vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist er übertrieben.
       
       taz: Woran machen Sie das fest? 
       
       Letizia Paoli: Es gibt drei Hauptkriterien für einen Narco-Staat: ein
       Niveau drogenbezogener Gewalt, das so hoch ist, dass es das
       gesellschaftliche Leben beeinflusst; Banden, die in der Lage sind
       Funktionsträger*innen bis in höchste Ebenen von Politik und Justiz zu
       korrumpieren; und ein erheblicher Beitrag des Drogenhandels zum
       Bruttoinlandsprodukt. Keines davon wird in Belgien erfüllt.
       
       taz: Können Sie das erläutern? 
       
       Letizia Paoli: [1][Ich habe kürzlich eine Studie veröffentlicht zu den
       negativen Folgen von Kokainschmuggel in Belgien]. Auch 2010 habe ich die
       Situation untersucht. Der Vergleich zeigt heute zweifellos eine
       Verschlechterung. Damals fanden wir keinen Mord in Verbindung mit
       Kokainhandel. Zwischen 2015 und 2024 dagegen gab es sechs in Antwerpen. In
       anderen Städten, vor allem Brüssel, waren es 2023 und 2024 zusammen 15.
       Verglichen mit der Gesamtzahl an Morden 2024 – 161– sind das noch immer
       relativ wenige.
       
       taz: Wie steht es um die [2][Korruption]? 
       
       Letizia Paoli: Wir sehen einen Anstieg, vor allem im Hafen von Antwerpen
       und allgemeiner im Logistiksektor. Es gab in den letzten Jahren auch einige
       Polizeibeamt*innen, die etwa in Datenbanken suchten, ob gerade bestimmte
       Ermittlungen stattfanden, oder korrupte Zollbeamt*innen, aber keinen Fall
       auf hoher Ebene, und keine Richterinnen oder Staatsanwälte. Das sind
       durchaus beunruhigende Tendenzen, aber das Niveau der Korruption ist
       niedrig.
       
       taz: Und der Anteil am BIP? 
       
       Letizia Paoli: Ich arbeite mit einer Ökonomin zusammen und nach unseren
       Schätzungen trägt der Drogenhandel höchstens 0,2 Prozent zum belgischen BIP
       bei. Dies stimmt überein mit Schätzungen der belgischen Nationalbank. In
       einer Studie fanden ein Kollege und ich heraus, dass der Anteil in
       [3][Tadschikistan] 30 Prozent beträgt. Da kann man wirklich von Narco-Staat
       sprechen. In Belgien kann ein solcher Prozentsatz kaum je erreicht werden,
       schon deswegen, weil es ein viel entwickelteres Land ist. Selbst zu
       [4][Cosa-Nostra]-Hochzeiten hätte ich auch Italien nicht als Narco-Staat
       bezeichnet, weil Zweige des Staats nicht korrupt waren, weshalb es auch
       eine starke Gegenreaktion gab.
       
       taz: Der Fokus in Belgien liegt auf Antwerpen, wegen des Hafens, und auf
       Brüssel, wo zuletzt regelmäßig Schießereien zwischen Drogengangs
       stattfanden. 
       
       Letizia Paoli: Antwerpen ist als zweitgrößter Hafen Europas traditionell
       auf Obstimport aus Lateinamerika spezialisiert und damit das Zugangstor für
       Drogen von dort. In Brüssel kämpfen Gangs in Quartieren wie Anderlecht um
       die Kontrolle der besten Plätze. In Antwerpen ist Gewalt oft auf Konflikte
       zwischen Drogenhändlern und ihren Helfern im Hafen zurückzuführen. Letztere
       bekommen manchmal kalte Füße und wollen damit aufhören, oder eine Lieferung
       kommt nicht an. Aber die Gewalt wird, wenn man so will, rationaler
       eingesetzt. Das erklärt, dass es trotz Hunderter Tonnen Kokain, die jedes
       Jahr ankommen, sechs Morde in zehn Jahren gab.
       
       taz: Warum verlagerte sich der Kokainhandel von Rotterdam nach Antwerpen? 
       
       Letizia Paoli: Weil die Kontrollen in Rotterdam stark verschärft wurden. In
       Antwerpen gab es weniger Containerscans, und sie funktionierten nicht mal.
       Der Hafen ist auch viel schwieriger zu kontrollieren, der Zugang ist offen,
       es gibt keinen richtigen Zaun.
       
       taz: Welche Folgen hatte das? 
       
       Letizia Paoli: Die Helfer im Hafen, die früher für niederländische Gangs
       arbeiteten, wurden ab etwa 2010 zunehmend in natura, also mit Kokain
       bezahlt. Manche machten dann schnell Karriere und wurden selbst zu großen
       Fischen. Dass es bis 2023 einen großen Anstieg an beschlagnahmtem Kokain
       gab, kam aber auch daher, dass viel mehr produziert wurde, und dass die
       belgischen Autoritäten endlich ihre Kontrollen verschärften.
       
       taz: Belgien wird oft als eine Art failed state dargestellt. Ist man dann
       auch schneller dabei, eine Bezeichnung wie Narco-Staat zu verwenden? 
       
       Letizia Paoli: Die Bezeichnung wird wegen der besagten beunruhigenden
       Trends verwendet – ein Werkzeug in einer internen Debatte, um mehr Geld für
       die unterfinanzierte föderale Polizei und für das Strafrechtssystem zu
       bekommen. Als Wissenschaftlerin halte ich das für übertrieben, wir sollten
       die Nuancen in dieser Debatte nicht aus den Augen verlieren. Und man sollte
       sich im Klaren sein, welchen Schaden dieses Label der internationalen
       Reputation Belgiens zufügt.
       
       taz: Entgegen dem Image ist Belgien durchaus gegen den Schmuggel
       vorgegangen? 
       
       Letizia Paoli: Ja. Im Hafen wurden ernsthafte Maßnahmen ergriffen, und dank
       der Entschlüsselung der [5][Krypto-App Sky ECC] Gefängnisstrafen von mehr
       als tausend Jahren ausgesprochen. Aber selbst das löst das Problem nicht.
       Das Kokain wird weiterhin kommen. Es sei denn, wir wollen jeden Container
       kontrollieren. Also werden wir uns nach alternativen Lösungen umsehen
       müssen.
       
       taz: Wie stehen Sie zur Idee einer Legalisierung? 
       
       Letizia Paoli: Sicher ist: Repression alleine wird das Problem nicht lösen.
       Auch in meinen Studien bestätigt sich, dass viele der schweren Schäden, die
       mit dem Schmuggel von Kokain und anderer Drogen einhergehen, auf die
       aktuelle Drogenpolitik zurückgehen. Vor allem natürlich in den Produktions-
       und Transitländern wie Ecuador, für das die Bezeichnung Narco-Staat
       inzwischen wirklich zutrifft. Könnte Kokain einfach wie Kaffee aus
       Lateinamerika gekauft werden, gäbe es die Gewalt und Korruption nicht.
       Irgendwann müssen wir darüber eine offene Debatte beginnen. Aber ich halte
       eine Legalisierung von Kokain derzeit nicht für realistisch, nicht einmal
       eine offene Debatte.
       
       taz: Was schlagen Sie also vor? 
       
       Letizia Paoli: Realistisch wäre es, mit Cannabis zu beginnen. Eine
       moderate, vorsichtige Form von Legalisierung, Modelle wie in Deutschland,
       der Schweiz oder dem Experiment in den Niederlanden. Dann müssten wir Daten
       erheben, um zu schauen, ob die Schäden durch den Drogenkonsum nicht
       exponentiell wachsen. Und dann könnte man überlegen, ob sich einige Lehren
       vielleicht auf Kokain übertragen lassen.
       
       13 Nov 2025
       
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