# taz.de -- Nobelpreis für Literatur: Durch die Seiten hindurchgeweht
       
       > László Krasznahorkais kürzester Roman ist fast ständig in Bewegung. Beim
       > Lesen gerät man regelrecht in einen Sog. Das gefällt nicht jedem.
       
 (IMG) Bild: Wunderschöner Garten in Kyoto, Japan
       
       Ein seltsamer Titel ist das: „Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im
       Westen Wege, im Osten ein Fluss“. Vor allem aber ein rhythmischer.
       [1][László Krasznahorkai] genehmigte sich für seinen Roman von 2003, zwei
       Jahre später auf Deutsch erschienen, viel Platz vorn auf dem Buchumschlag.
       Im ungarischen Original benötigte er allerdings statt der 15 Wörter, die
       die Übersetzung beansprucht, lediglich acht. Wie ein Haiku liest sich das,
       vier kleine Sätze mit Ortsbeschreibungen, das Verb kann man sich
       dazudenken.
       
       Zum langen Titel bildet die Zahl der Seiten einen deutlichen Kontrast. Auf
       gerade einmal 150 Seiten beschreibt Krasznahorkai die Zugreise des Enkels
       des Prinzen von Genji zu einem Kloster im Süden Kyotos, wo er nach dem
       schönsten Garten der Welt sucht. Die knappen Kapitel wiederum enthalten oft
       nur einen einzigen, sich in immer neuen Anläufen und Windungen
       fortspinnenden Satz. Der Text ist, wie sein Protagonist, fast ständig in
       Bewegung.
       
       Wie zum Atemholen punktieren kürzere Hauptsätze wiederkehrend den Fluss an
       Beobachtungen und Gedanken. Unbeeindruckt von der Ruhelosigkeit des
       Geschehens ist der Erzähler hellwach, achtet mit gleich schwebender
       Aufmerksamkeit auf alles, was dem Enkel des Prinzen von Genji unterwegs
       begegnet. Die alltäglichsten Dinge bekommen eine poetische Qualität, ohne
       Pathos, sie sind, scheint’s, einfach. Beim Lesen fühlt es sich an, als
       würde man durch die Seiten hindurchgeweht.
       
       Das Buch war vor einigen Jahren auch Gegenstand einer Lesung mit Diskussion
       in einer kulturwissenschaftlichen Einrichtung. Ein Schauspieler las einige
       Passagen daraus vor, zum Ausklang luden die Veranstalter zum Umtrunk. Einer
       von ihnen fragte nach meinen Eindrücken. Nachdem ich mich begeistert vom
       Roman und angetan von der Lesung gezeigt hatte, holte mein Gegenüber zum
       Rundumschlag aus: Der Text sei schwach, die Lesung viel zu wenig
       spannungsreich.
       
       Reflexartig stand sofort das eigene Urteil auf dem Prüfstand. Hatte ich da
       etwas nicht bemerkt? War das literarische Empfindungsvermögen womöglich gar
       unzureichend entwickelt? Wobei sich zugleich innerer Widerstand regte: Die
       Erinnerung an die Lektüre war eben eine ganz andere. Dann doch lieber dumm
       und höchst glücklich mit dem Buch.
       
       Spätestens die Entscheidung der Schwedischen Akademie in Stockholm,
       Krasznahorkai den Nobelpreis für Literatur zu verleihen, hat die
       Verhältnisse in dieser Frage wieder etwas zurechtgerückt.
       
       9 Oct 2025
       
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