# taz.de -- Beraterin zum Streit über Armutszahlen: „Das sind rund eine Million Menschen weniger“
> Wissenschaftler*innen werfen dem Statistischen Bundesamt vor, die
> Armutsstatistik zu schönen. Die Mit-Initiatorin eines Protestbriefs
> vermutet politische Motive.
(IMG) Bild: Immer mehr Menschen haben am Monatsende nicht genug Geld im Portmonnaie
taz: Frau Stilling, [1][in einem Protestbrief] werfen Sie mit knapp 30
Armutsforscher*innen dem Statistischen Bundesamt „behördliche Willkür“
bei der [2][Veröffentlichung von Armutszahlen vor]. Warum?
Gwendolyn Stilling: Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der
Bevölkerung werden auf zwei Wegen erhoben: Einmal mit einer ganz großen
Stichprobe von fast 400.000 Haushalten, dem sogenannten Mikrozensus Kern,
und dann noch mal mit einer deutlich kleineren Unterstichprobe, dem
Mikrozensus SILC. Bisher wurde die Armutsquote für beide Erhebungen
ausgewiesen. Jetzt hat das Statistische Bundesamt entschieden, sie für eine
davon nicht mehr auszuweisen – ausgerechnet für diejenige, die eine
deutlich höhere Armut ausweist. Das wirft Fragen auf.
taz: Worin unterscheiden sich die beiden Befragungen?
Stilling: Der Mikrozensus Kern, für den die bundesweite Armutsquote jetzt
fehlt, erfasst beinahe ein Prozent der Bevölkerung. Er erlaubt eine viel
tiefere Auswertung bis in einzelne Regionen hinein oder auch nach
soziodemografischen Merkmalen. Die andere Stichprobe ist für den
europaweiten Vergleich optimiert. Weil sie kleiner ist, bietet sie aber nur
einen groben Überblick. Zur Armutsentwicklung im Ruhrgebiet oder zur
Armutsquote von Kindern in Berlin bekommt man dort zum Beispiel keine
Ergebnisse.
taz: Wie unterscheiden sich die Fragen? Das Bundesamt argumentiert, die
Zahlen des Mikrozensus SILC seien zuverlässiger, [3][weil das Einkommen
darin „differenziert und spitz“] abgefragt werde.
Stilling: Das sind tatsächlich zwei unterschiedliche Methoden, die beide
Stärken und Schwächen haben. Beim MZ-SILC wird differenziert nach
Einkommensbestandteilen gefragt: Wie viel Erwerbseinkommen hatten Sie im
letzten Jahr? Gab es auch noch Einkommen aus Kindergeld? Und andere
Zuschüsse? Der Nachteil bei dieser Methode ist, dass immer rückwirkend für
das Vorjahr gefragt wird und die Zahlen dadurch immer veraltet sind.
Das ist beim Mikrozensus Kern anders. Hier wird einfach nach dem
Gesamteinkommen des Vormonats gefragt. Auch dort geht es darum, wie viel
dem Haushalt insgesamt netto zur Verfügung stand, aber es wird nicht
einzeln nachgehakt, ob man an alle Bestandteile gedacht hat. Dafür sind die
Zahlen aktueller und gerade für die Armutsforschung ist das ein wichtiger
Faktor. Das monatliche Durchschnittseinkommen des letzten Jahres sagt
nichts darüber aus, ob jemand aktuell arm ist oder nicht.
taz: Dass die erste Methode die korrekteren Ergebnisse liefern soll, weil
die Befragten keinen Teil ihres Einkommens vergessen, ist aber
nachvollziehbar – und das müsste der Wissenschaft doch auch wichtig sein?
Stilling: Es ist in der Forschung schlicht umstritten, welche Methode
wirklich zuverlässiger ist. Man kann das so sehen. Ich persönlich könnte
mich in einer Befragung aber eher daran erinnern, was ich im letzten Monat
insgesamt zur Verfügung hatte, als über verschiedene Kategorien verteilt im
Vorjahr.
taz: Abgesehen von Aktualität und regionalen Details: Welche Probleme
verursacht die neue Veröffentlichungspraxis noch?
Stilling: Dafür müssen wir etwas tiefer in die Methodik gehen. Die
Befragungsdaten gibt es wie gesagt immer noch für beide Erhebungen. Für den
Mikrozensus Kern wird aber das mittlere Einkommen nicht mehr auf
Bundesebene angegeben. Weil die Armutsquote von diesem Medianeinkommen
abhängt, kann also auch sie nicht mehr bundesweit berechnet werden. Es
fehlt sozusagen der Zollstock, mit dem man Vergleiche zwischen den
Bundesländern anstellen kann.
Stattdessen hat jedes Bundesland seinen eigenen Zollstock und das ist ein
gravierender Unterschied. Bremen zum Beispiel hatte 2023 gemessen am
mittleren Einkommen des Bundes eine Armutsquote von 28,8 Prozent, aber
gemessen am mittleren Einkommen der Bremer nur 19,7 Prozent. Natürlich
haben beide Varianten eine Berechtigung. Es kommt immer auf das
Erkenntnisinteresse an und wir sagen ja nicht, wir wollen nur das eine.
Aber speziell, wenn es darum geht, Sozialpolitik evidenzbasiert zu
gestalten, braucht es bundesweite Vergleichbarkeit.
taz: Ein Gegenargument des Bundesamts ist, dass man nicht unterschiedliche
Zahlen zu ein und demselben Sachverhalt in die Welt setzen möchte.
Stilling: Das ist nicht nachvollziehbar. Es ist in der Wissenschaft gang
und gäbe, dass unterschiedliche Quellen und dann eben auch unterschiedliche
Ergebnisse existieren. In der Gesamtschau nähert man sich der Realität.
taz: In Ihrem Brief werfen Sie die Frage auf, ob mit der Entscheidung des
Bundesamtes die öffentliche Debatte „in eine bestimmte Richtung gelenkt
werden“ solle. Wie kommen Sie darauf?
Stilling: Uns besorgt besonders, dass die unterschiedlichen Methoden eben
Unterschiede für die bundesweite Armutsquote machen. Beim Mikrozensus Kern
lag sie 2023 bei 16,6 Prozent, bei SILC nur bei 15,5 Prozent. Das sind rund
eine Million Menschen weniger. Das eine Ergebnis nicht mehr zu
veröffentlichen, birgt also die Gefahr einer geschönten Wahrnehmung.
taz: Sie schreiben, [4][das Bundesamt] habe die Daten auf seiner
Internetseite sogar rückwirkend für die letzten Jahre gelöscht. Wann wurden
sie entfernt?
Stilling: Wir können mit Sicherheit sagen, dass die Daten für die Jahre bis
2023 im ersten Halbjahr noch online verfügbar waren. Vor zwei Wochen haben
wir dann festgestellt, dass dem nicht mehr so ist.
taz: Haben Sie auf Ihren Brief schon eine Antwort bekommen?
Stilling: Nein. Wir hatten den Brief mit Vorlauf am Sonntag an das
Statistische Bundesamt geschickt und ihn erst Donnerstag öffentlich
gemacht. Wir haben mitbekommen, dass das Bundesamt offensichtlich
Presseanfragen dazu bedient. Uns wurde aber noch nicht geantwortet.
Natürlich werden wir das Thema auch politisch weiterverfolgen.
Aufsichtsbehörde des Statistischen Bundesamtes ist das
Bundesinnenministerium. Je nachdem, ob wir eine Auskunft bekommen und wie
diese ausfällt, werden wir auch das Gespräch mit Fachpolitikern suchen.
Klar ist: Diese Zahlen müssen wieder ins Netz.
16 Aug 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://gks-consult.de/armutsdaten-mikrozensus-brief-stabu/
(DIR) [2] /Sozialverband-stellt-Bericht-vor/!5997824
(DIR) [3] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Lebensbedingungen-Armutsgefaehrdung/Schongewusst_Indikatoren.html
(DIR) [4] /Statistisches-Bundesamt/!t5010542
## AUTOREN
(DIR) Tobias Schulze
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