# taz.de -- Die Wahrheit: Urgefahr aus dem Rucksack
       
       > In Berlin darf sich traditionell jeder und jede nach Belieben kleiden,
       > wie es ihm oder ihr gefällt. Wäre da nicht die eine auffällige Sache …
       
       Manche beklagen es, andere bejubeln es, den allermeisten Bewohnern ist es
       so egal, wie alles andere auch: In Berlin spielt es keine Rolle, wie man
       auf die Straße geht. Niemand würde es wagen, jemanden in der Öffentlichkeit
       deswegen anzusprechen. In bestimmten Subkulturen – Fashion Week,
       Kitkat-Club, Bundestag – mag es von Bedeutung sein, wie man sich kleidet,
       frisiert, schminkt oder ob überhaupt. Draußen aber gilt das eherne Gesetz:
       Es wird nicht geguckt und erst recht nichts gesagt.
       
       Ganz gleich, ob die Leute sich in geschlechtsteilausstellende
       kunstdarmähnliche Polyester-Polyamid-Hüllen quetschen, in Business-Topcoats
       durch ihr Ghetto eilen, sich ganzkörperverschleiern oder nur mit der
       Badehose Rikscha fahren, der Rest der Stadt nimmt es schweigend hin, im
       Normalfall nicht einmal wahr. Wer will schon aufschauen, nur weil jemand in
       einem Panda-Schlafanzug in der U-Bahn gegenüber sitzt? Anders ist es nicht
       zu erklären, dass selbst so etwas wie der Nius-Torero Julian Reichelt sich
       unbeschadet durch die Hauptstadt bewegen kann. Es gibt hier schlicht keine
       ästhetischen oder moralischen Standards.
       
       Mit einer Ausnahme, und von der will ich berichten. Lassen Sie nie, niemals
       Ihren Rucksack auch nur einen Spaltbreit geöffnet! Sie kommen nicht weit
       damit. Ganz gleich, wo Sie sich mit so einem Ding auf dem Rücken bewegen,
       wenn es nicht hermetisch verschlossen ist, werden Sie unweigerlich umgehend
       angesprochen.
       
       Ob die freundliche ältere Dame Sie mit einem höflichen „Entschuldigen Sie
       bitte, junger Mann, aber Ihr Rucksack ist nicht ganz zu“ anspricht oder der
       goldkettchenbehängte Homie Sie mit einem „Ey Bruder, mach Rucksack zu, ist
       offen!“ anraunzt, es ist Berlinern Bedürfnis und Auftrag zugleich, dafür
       Sorge zu tragen, dass jeder Rucksack stets ordnungsgemäß verschlossen ist.
       Sie können tagelang mit offener Hose durch die Stadt laufen, oder, wie ich
       aus eigener Erfahrung weiß, sogar damit auf die Bühne steigen, ohne dass
       jemand etwas sagen würde, aber mit offenem Rucksack schaffen Sie es nicht
       mal bis in den nächsten Bus.
       
       Es ist ein großes Mysterium. Die kleinste, offenkundig vollkommen
       gefahrlose Öffnung durch einen nicht ganz zugezogenen Reißverschluss löst
       schlüsselreizartig soziale Fürsorgegefühle selbst beim gröbsten
       Gangsta-Klotz oder gar bei FDP-Wählerinnen aus. Die Furcht, eine kleine
       Lücke könne sich zum Dammbruch weiten, beim Auf- oder Absetzen könnte
       unbemerkt etwas herausfallen oder ein Langfinger eben jenen hineinschieben,
       scheint selbst bei Langfingern so tief ins Unterbewusstsein gebrannt, dass
       sie nicht anders können, als den Schutzlosen auf die drohende Urgefahr
       hinzuweisen. So entpuppt sich die Stadt doch noch als Solidargemeinschaft.
       
       Aber es gibt dann doch etwas, mit dem Sie nicht ungestört auf die Straße
       gehen können: die Kippa. Aber das ist kein berlintypisches Phänomen und
       eine andere, traurigere Geschichte.
       
       14 Sep 2025
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Heiko Werning
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Berlin
 (DIR) Kleidung
 (DIR) Öffentlichkeit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Afrika
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Endlich mal ein Aufregerthema!
       
       Über was darf man sich denn noch echauffieren? Das Erregungspotenzial ist
       auf allen Gebieten ausgeschöpft. Da bleiben nur noch Adventskalender!
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die Bahn mal wieder!
       
       Alle Welt klagt über das unbewegliche Mobilitäts- und Transportunternehmen.
       Dabei können sich doch in den Zügen gar wundersam wilde Dinge zutragen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Hitlers afrikanische Freunde
       
       Auf dem schwarzen Kontinent treffen Reisende aus unseren Breitengraden auf
       eine grenzenlose Liebe zum Deutschen in seiner bekanntesten Verkörperung.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Im Niesel der Völkerverständigung
       
       Wer die betagte Tante besucht, erfährt einmal mehr am eigenen Leib die
       Bedeutung des Jugendwortes „cringe“. Es braucht nur den Besuch einer
       Pflegerin.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Herren des Ostens
       
       Herrentagsauflug nach Mecklenburg. Was für eine schöne westfälische
       Tradition mit Höcke-Schwänen und braunen Vögelchen!