# taz.de -- DJ und Labelboss Marie Montexier: Die Extremklettererin
       
       > Marie Montexier brachte sich das Mixen selbst bei – und alles Weitere,
       > was die DJ, Partyveranstalterin und Inhaberin der Plattenfirma Paryìa
       > macht.
       
 (IMG) Bild: Vier Gigs an einem Wochenende sind für DJ Marie Montexier keine Seltenheit
       
       Der Track „House Nation“ von den Housemaster Boyz ist zweifellos eine
       dieser Dancefloor-Interkontinental-Raketen, die vor rund 40 Jahren [1][in
       Chicago] gezündet wurden, um einen weltweiten Siegeszug elektronischer
       Tanzmusik anzuzetteln. Seine Eingängigkeit ist simpel: Der hyperaktiv
       stotternde, endlos wiederholte Claim „House Nation“ steht in Kombination
       mit den präzise-melancholischen Akkorden, die Produzent Farley „Jackmaster“
       Funk (alias Farley Keith Williams) untermischt, über die Jahrzehnte wurde
       „House Nation“ zum Nugget.
       
       Wer vor wenigen Wochen dem „Paryìa-Fest“, einem Rave des gleichnamigen
       Labels am Berliner Plötzensee, beiwohnte, durfte dieses Prachtstück gleich
       aus den Händen der Hausherrin empfangen. An sich wäre das noch keine
       Meldung wert, denn das Ausgraben von Acid-House-Perlen aus Chicago hat
       Inflation – bei der Wahlberlinerin und Paryìa-Labelbetreiberin Marie
       Montexier wird der Einsatz trotzdem zur großen Partykunst.
       
       Nicht nur, weil die junge DJ das Track-Tempo gezielt forciert, wichtig ist,
       welche Nummer Montexier wiederum auf „House Nation“ folgen lässt. Mit
       [2][„Transformation“ von Transform] knüpft sie an Chicago-Acid ein
       seltsam-verwunschenes Progressive-House-Stück. Dessen Urheber ist der alte
       Hase Tommi Eckart von 2raumwohnung – nach Chicago folgt bei Marie Montexier
       wie so oft Berlin.
       
       Eklektizismus war vor rund zehn Jahren das Modewort der Danceszene. DJs
       verschrieben sich der bunt gewürfelten Auswahl, es wurde wilder und
       aufregender, bis dieser Hype ins Gegenteil umschlug. Aus Abenteuerlust
       wurde Beliebigkeit, und von der „Hauptsache, es macht Spaß“-Attitüde ging
       es leider zuletzt hin zu dekadenten Tempoverschärfungen, die Eurotrash und
       Plastik-Trance zur großen Kunst hochstilisieren.
       
       Marie Montexier zählt ebenfalls zur Fraktion der Eklektizist:Innen, was sie
       jedoch grundsätzlich von vielen ihrer DJ-Kolleg*innen unterscheidet: Sie
       ist gefeit vor geschmacksarmen Schnellschüssen. Das liegt unter anderem
       daran, dass das Analysieren von DJ-Mixen und Live-Sets, vor allem in Bezug
       auf ihren Aufbau und ihre Dynamik und Platzierung, bei Montexier eine
       zentrale Rolle einnimmt. Bis heute untersucht sie auch akribisch die
       eigenen Sets.
       
       ## Ohne Genregrenzen
       
       Neben dem Handwerk („Wie baut man einen spannungsreichen Mix auf?“) steht
       dabei besonders die Auswahl im Fokus. In früheren Interviews gab Montexier
       an, vom britisch-amerikanischen Berliner Produzenten und DJ Objekt (alias
       TK Hertz) beeinflusst zu sein. Dieser ist für den versierten Einsatz
       unterschiedlichster elektronischer Klangsignaturen bekannt – so auch
       Montexier.
       
       „Sich keine Genregrenzen zu setzen“, ist dementsprechend ihr Motto, was
       sich auch in ihrem Label Paryìa widerspiegelt: „Neben Breakbeat und House
       findet sich dort auch Ambient, experimenteller Sound oder Techno, aber auch
       mal Downtempo.“
       
       Es ist ein breites Spektrum, das sich in den bisherigen sieben
       Veröffentlichungen abbildet. Den Anfang machte das Vinyl-Label mit einer
       Veröffentlichung eines langjährigen Begleiters, der dabei war, als
       Montexier ihre ersten Schritte als DJ machte: der deutsch-türkische
       Produzent a.b.u.303 mit kräftig-tribalen Technostößen, die von der
       Bass-Synthese einer Roland 303 angetrieben werden und die Basis eines
       düsteren Acid-Entwurfs osttürkischer Volksmusiken sind. Die
       Veröffentlichung erfolgte 2021 unter dem Titel „Anatolism“.
       
       ## Werdegang mit Höhen und Tiefen
       
       Eine Vorliebe für eigenständige und global inspirierte Percussion-Sounds
       lässt sich nahezu allen Tracks des Labels Paryìa attestieren, exemplarisch
       zu hören auf der „Tension“-EP der iranischen Künstlerin Nesa Azadikhah oder
       auf jener des Venezolaners Dj Babatr.
       
       Diese Eigenständigkeit im Ausdruck verfolgt Montexier bereits seit ihrer
       ersten selbstgekauften Platte für den Club-Betrieb, die vom italienischen
       Deep-House-Produzenten Donato Dozzy stammt – eine weitere integre Figur der
       Szene. Doch es war ein steiniger Weg, bis Marie Montexier als DJ
       durchstarten konnte. Bereits als Kind erhielt sie in Siegburg bei Köln
       Geigenunterricht, beschreibt ihren Werdegang dennoch als von „starken Höhen
       und Tiefen“ geprägt.
       
       Abitur machte sie auf dem zweiten Bildungsweg. Während der Berufsschulzeit
       musste sie nebenher jobben, um Geld für die Miete und Lebensunterhalt
       aufzubringen. „Ich habe am Wochenende drei, vier, manchmal fünf Schichten
       in Bars gearbeitet“, sonstige Unterstützung gab es keine.
       
       ## Verdrängung der Arbeiterklasse
       
       Stattdessen habe sie sich gezielt auf die Suche nach
       5-Euro-Second-Hand-Platten gemacht, aber erst, nachdem sie sich von
       gesammeltem Trinkgeld einen eigenen Plattenspieler gegönnt hatte. Diese
       Erfahrung macht sie bis heute bescheiden. Die eigene Arbeit als DJ, wodurch
       sie auch zur Instagram-Persönlichkeit mit 45.000 Follower*innen wurde,
       als Veranstalterin in Köln, wo sie das FLINTA*-Kollektiv Precéy mit
       aufbaute, und vor allem [3][als Labelmacherin von Paryìa Records] stellt
       sie deutlich in den Dienst der Sache.
       
       Faszinierend ist, welchen Weitblick Marie Montexier beweist. Sie
       reflektiert dabei nicht nur musikalische Wellenbewegungen und Trends,
       sondern tritt fast schon als notorische Analytikerin der weltweiten
       Dancefloor-Szene und ihrer Talente auf. Ihr Engagement geht über den
       innermusikalischen Diskurs hinaus.
       
       „Ich sehe mit Sorge, wie durch die steigenden Kosten eine sozioökonomisch
       schwächere Schicht vom Dancefloor verdrängt wird“, sagt sie und verweist
       auf Studien, die ihre Sorge bestätigen. Eine [4][wissenschaftliche
       Umfrage], die erstmals 2022 im Guardian erwähnt wurde, zeigt, wie der
       Neoliberalismus in Großbritannien zur Verdrängung der „Arbeiterklasse und
       ihrer Kinder“ in den kreativen Bereichen geführt hat. Die Vermutung liegt
       nahe, dass sich Ähnliches auch für Deutschland attestieren lässt.
       
       ## Als DJ immer erfolgreicher
       
       Für Montexier ist das dennoch kein Grund zu resignieren. Sie nutzt die ihr
       gebotenen Netz-Plattformen, um zu gestalten, zu formen und jene zu
       unterstützen, die es brauchen: „Ich gebe den Support, den ich mir selbst in
       meinen Anfängen gewünscht hätte.“ Bei so viel Aufopferungsbereitschaft
       vergisst man fast, dass die junge Künstlerin und Musik-Managerin selbst als
       DJ immer erfolgreicher wird.
       
       Ihre Bookingagentur hat alle Hände voll zu tun, vier Gigs an einem
       Wochenende sind keine Seltenheit. Und wenn das noch nicht reicht, jettet
       sie nach New York, um beim ikonischen [5][Radiomoderator Tim Sweeney] und
       seiner Internetradio-Sendung „Beats in Space“ live im Hörfunkstudio zu
       sitzen, zu reden und einen astreinen Mix abzuliefern.
       
       Wie bleibt man bei solch einer Verantwortung für sich und andere
       körperlich und seelisch gesund? Montexier nimmt mittlerweile ihre
       Kletterschuhe überall hin mit – wenn sie nicht am DJ-Pult steht, dann
       klettert sie. Eine passende Metapher für eine DJ, die allein und ohne
       Sicherungsseil und Fallnetz die Karriereleiter hochkraxeln musste.
       
       24 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Efdemin-Album-Chicago/!5142041
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=2tODHQZ2dlg
 (DIR) [3] https://paryia.bandcamp.com/
 (DIR) [4] https://guardian.pressreader.com/article/281857237321951
 (DIR) [5] /Tanzen-auf-der-Mittelwelle/!546931&s=Tim+Sweeney/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lars Fleischmann
       
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