# taz.de -- Französische Küche: „Austern sollte sich jeder leisten können“
       
       > Wer Frankreich verstehen will, muss sein Essen verstehen. Autorin Nadia
       > Pantel über Fusion Food aus den Banlieues und grillende Gelbwesten.
       
 (IMG) Bild: Bon appétit: Verkostung bei einem Austernbauern in der Region Marennes-Oléron
       
       taz: Frau Pantel, Sie haben ein Buch darüber geschrieben, wie eng in
       Frankreich Essen mit Politik, Gesellschaft und Geschichte verbunden ist.
       Viele Menschen denken bei unserem Nachbarland an Foie gras und opulente
       Drei-Gänge-Menüs, dabei gibt es auch einfache Speisen wie den „French
       Tacos“. Wie politisch ist dieser Snack? 
       
       Nadia Pantel: Der French Tacos ist eine symbolische Erfolgsgeschichte der
       Banlieues. In den Hochhausvorstädten ist Frankreich im Durchschnitt jünger
       und ärmer, und es leben dort mehr Menschen, die nicht im Land geboren sind.
       Über die Banlieues wird oft mit rassistischem Einschlag berichtet. Dabei
       sieht man mit unvoreingenommenem Blick viel mehr. Es gibt dort zwar soziale
       Probleme, aber auch viele Ideen – wie eben den French Tacos, der sich zu
       einem der erfolgreichsten Fast-Food-Produkte des Landes entwickelt hat.
       
       taz: Was macht den French Tacos aus? 
       
       Pantel: Bei ihm werden Fleisch, Käse und Pommes mit einer Käsesoße in einen
       Weizenfladen gewickelt. Man sollte ihn am besten essen, wenn der Körper
       noch viel Fett verbrennen kann. Es ist eher ein Jugendsnack.
       
       taz: Die Familien, die aus Nordafrika eingewandert waren, wollten mit dem
       French Tacos primär Geld verdienen. Und dann ist daraus etwas Neues
       entstanden: Fusion Food. 
       
       Pantel: Richtig. Der French Tacos zeigt wunderbar, dass die Banlieues eben
       keine von Frankreich abgeschnittenen Orte sind, sondern welche, die das
       Land prägen, auch kulinarisch. Und wenn ich auf die Drei-Gänge-Menüs
       zurückkommen darf: Die bekommt man in den Banlieues auch. Es geht dabei
       weniger um Opulenz als darum, Essen in verschiedene Momente aufzuteilen.
       Das macht man nicht nur in bürgerlichen Haushalten. Mein französischer Opa
       war Arbeiter, trotzdem legten meine Großeltern großen Wert darauf. Obwohl
       sie wenig Geld hatten, sollte das Essen etwas Besonderes sein, nicht
       Ärmlichkeit vermitteln. Es gab immer eine Vorspeise vor dem Essen und
       danach Käse. Das war für sie eine Frage der Würde.
       
       taz: Um Würde geht es auch beim „Populuxe“, dem Luxus fürs Volk, dem Sie
       ein ganzes Kapitel gewidmet haben. 
       
       Pantel: Weil in Frankreich Essen unbedingt mehr sein darf als notwendig und
       gesund. Auf den Volksluxus bin ich über die Auster gestoßen. Ich bin als
       Kind am Rand Hamburgs aufgewachsen. Da gab es so eine bestimmte Form von
       Snobismus, bei dem man sich von anderen abgrenzte, indem man teure
       Lebensmittel konsumierte. In Frankreich ist [1][die Auster] Massenprodukt
       und Luxus zugleich, aber einer, den sich jeder leisten können sollte.
       
       taz: Scheint zu funktionieren. Die Franzosen essen 100.000 Tonnen Austern
       im Jahr, über zwei Drittel davon allein in der letzten Dezemberwoche.
       Halleluja! 
       
       Pantel: Ja, es ist ein ganz anderes Weihnachtskonzept als in Deutschland –
       mit weniger Kerzen, weniger Glühwein und vor allen Dingen weniger
       Dunkelheit. Anstelle von Marzipan-Schwermut stellen sich Leichtigkeit und
       Enthusiasmus ein.
       
       taz: In Frankreich werden aber nicht nur Austern geschlürft. Sie
       beschreiben auch den „grillenden Widerstand“ der Gelbwesten, die ab Herbst
       2018 [2][zu Hunderttausenden auf die Straße gingen] und gegen die Erhöhung
       der Benzinsteuer demonstrierten. 
       
       Pantel: Den Gelbwesten bin ich erstmalig 2018 in St. Emilion begegnet. Da
       waren hauptsächlich Menschen, auf deren Rücken die dortigen
       Rotweinproduzenten ihren Profit machten. Arbeiter im Weinberg, aber auch
       Leute, die ihren Job verloren hatten. Sie versammelten sich am Rand der
       Kleinstadt am Kreisverkehr und machten ihn zum Mittelpunkt ihres Lebens:
       mit Klohäuschen, Vorratshaltung und immer auch mit einem Grill. Sie waren
       nicht nur eine Bewegung für größere politische Mitbestimmung, sondern auch
       gegen die Vereinzelung. Man traf sich, aß und trank zusammen.
       
       taz: Das Gefühl der Zusammengehörigkeit entstand also über das gemeinsame
       Essen und Trinken? 
       
       Pantel: Ein französischer Demonstrant hat mir gesagt: Man muss die
       Revolution nähren. Und zur Verlängerung eines sozialen Momentes ist es
       natürlich gut, wenn man auch isst und trinkt. Das ständige Grillen ist
       jedenfalls nicht nur mir aufgefallen. Der französische Politiker François
       Ruffin sagte irgendwann: Ich befürworte die Merguez als revolutionäres
       Werkzeug. Und im Frühjahr 2019 warnte die Regierung: Ah, jetzt wird das
       Wetter grillfreundlich, wir müssen aufpassen, dass die Kreisverkehre nicht
       wieder übernommen werden.
       
       taz: Sie erzählen im Buch auch, dass in Paris Hühner und Schafe mitten in
       der Stadt leben und auf Parkhäusern gemeinschaftlich Tomaten angebaut
       werden. 
       
       Pantel: Ja, die Ökologiebegeisterung der Franzosen wird unterschätzt. Ich
       habe im Nordosten von Paris gewohnt, da hatten die vielen Hühner fast schon
       etwas Drolliges. In Paris befindet sich auch einer der größten
       Dachbauernhöfe. Es gibt eine lange Tradition, der steinernen Stadt
       Lebensmittel abzuringen. Ob es Champignons unter Tage sind oder Wein auf
       dem Montmartre – selbst in der Hauptstadt zeigt sich, dass Frankreich eine
       große Agrarnation ist. Zudem gibt es irre viele Bioläden, nicht nur schicke
       in den teuren Vierteln, sondern auch unprätentiöse, günstige.
       
       taz: Ihre These lautet: Der deutsche Umweltschutz wurzelt in der Angst, der
       französische im Genuss. 
       
       Pantel: Die französische Umweltbewegung beginnt eher nicht beim
       Waldspaziergang, sondern beim Abendessen. Meine französische Mutter kaufte
       in meiner Kindheit in Hamburg viel in deutschen Reformhäusern ein, aber es
       ging ihr ausschließlich um den Geschmack. Das erlebte ich auch in meiner
       Pariser Zeit sehr oft. Da brachten Nachbarn den perfekten Pfirsich vom
       Onkel mit oder besonders aromatische Trauben vom Cousin auf dem Land.
       
       taz: Apropos Trauben – Frankreich ohne Wein ist unvorstellbar. Heute wird
       ein Drittel der französischen Weingüter [3][von Frauen geführt.] Aber der
       Weg dahin war lang und steinig, nicht wahr? 
       
       Pantel: So ist es. Lange bevor Frauen sichtbare Positionen einnahmen,
       arbeiteten sie aber schon mit, machten in den Familienbetrieben die
       Buchhaltung, schufteten in den Weinbergen und verkauften das Erzeugnis.
       Doch die Männer präsentierten sich als die großen Kenner. Nach dem Motto:
       Voilà, das ist mein Werk! Gleichzeitig wurden Frauen in der Weinbranche
       sexuell belästigt oder degradiert. Die Weinhändlerin Fleur Godart zeigte
       2021 eine Weinkennerzeitschrift an, nachdem diese sie in einer
       derb-sexistischen Karikatur verunglimpft hatte. Godart erstattete nicht nur
       Anzeige, sie nahm Weine in ihr Sortiment auf, auf deren Etiketten
       Schlüsselmomente der Frauenbewegung gezeigt werden.
       
       taz: Sie sprechen auch mit Ophélie Neiman, eine der bekanntesten
       Weinkennerinnen Frankreichs. In ihrer Kindheit reproduzierte ihr Vater beim
       sonntäglichen Familienessen sein angelesenes Weinwissen, ohne dass jemand
       etwas verstand. Neiman möchte Wein aber so erklären, dass er Spaß macht. 
       
       Pantel: Männer protzen in der patriarchalischen Gesellschaft gerne mit dem
       Herrschaftswissen des Weinkenners: Ich erkläre euch das jetzt mal, und zwar
       so, dass ihr kein Wort versteht! Aber es soll doch auch Freude machen, Wein
       zu trinken. Lebensmittel sollten demokratisiert werden. In der bourgeoisen
       Welt wird Wein degustiert, in den Dörfern getrunken, sagt Ophélie Neiman.
       Aber betrunken sind sie am Ende alle.
       
       18 Jul 2025
       
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