# taz.de -- Solidarische Landwirtschaft: Souveräne Saaten
       
       > In den Hamburger Vier- und Marschlanden kämpfen die „Tomatenretter“ für
       > ökologische Vielfalt und gegen kapitalistische Landwirtschaft.
       
 (IMG) Bild: 440 Tomatensorten bauen die „Tomatenretter“ in drei Gewächshäusern an
       
       Hamburg taz | In den Hamburger Vier- und Marschlanden, versteckt hinter
       Obstbäumen und wuchernden Sträuchern, liegt an der Gose-Elbe ein
       unscheinbarer Hof. In seinen drei Gewächshäusern wird jedoch Großes
       geleistet: Die „Tomatenretter“ setzen sich dort, umgeben von
       konventionellen landwirtschaftlichen Betrieben, seit rund zehn Jahren für
       die ökologische Vielfalt des geliebten Gemüses ein – und für [1][eine
       solidarische Landwirtschaft], die sich kapitalistischen Strukturen
       entzieht.
       
       Ursprünglich wollte das kleine Gärtnerprojekt bloß geschmacklich
       hochwertiges Gemüse anbauen. Aber schließlich wurde daraus auch eine
       praktische Kritik an der heute üblichen Produktionsweise in der
       Lebensmittelindustrie. In der konventionellen Tomatenproduktion agieren
       landwirtschaftliche Betriebe nämlich nach den kapitalistischen Prinzipien
       der Profitorientierung und einer stark getrennten Arbeitsteilung. Diese sei
       meist [2][mit der Ausbeutung von Arbeitskraft verbunden], erklärt Hilmar
       Kunath, Gründungsmitglied der Tomatenretter. Der Großteil der in
       Deutschland konsumierten Tomaten werde zudem unter klimaschädigenden
       Bedingungen im Ausland angebaut, betont der 75-Jährige während des
       Gespräches im improvisierten Aufenthaltsraum des Gewächshaus-Komplexes.
       [3][Die Tomatenretter] verstehen sich deshalb auch als Teil der
       Klimabewegung.
       
       Der Verein wolle im lokalen Kontext in Bergedorf wieder „mehr
       Zusammenarbeit statt Arbeitsteilung“ entwickeln, um „einen Raum zu
       schaffen, in dem das Umfeld merken kann: Es geht anders.“ Dafür arbeiten
       die Tomatenretter unter anderem mit verschiedenen lokalen Vereinen und
       Umweltinitiativen zusammen. Gestützt wird der solidarische und
       unkommerzielle Hof von mittlerweile 330 Fördermitgliedern, die sich
       abhängig von ihren Tätigkeiten und Fähigkeiten im Verein einbringen.
       
       ## Sinnvolle Arbeit und freundliches Miteinander
       
       Erina, ist erst seit März auf dem Hof der Tomatenretter beschäftigt. Die
       28-jährige Japanerin lebt seit September vergangenen Jahres vorübergehend
       in Hamburg und möchte in der kommenden Saison neben der
       landwirtschaftlichen Praxiserfahrung auch ihre Deutschkenntnisse
       verbessern. Den Hof der Tomatenretter hatte sie per Zufall im Internet
       gefunden.
       
       Auch langjährige Ehrenamtliche wie Andrea, 54, und Günther, 74, gehören zum
       festen Kern. Sie schätzen neben der sinnvollen Arbeit vor allem das
       freundliche Miteinander in der Vereinsarbeit. Immer wieder beschäftigt der
       Verein dafür auch Praktikant:innen wie den 26-jährigen Robin, der seit
       März neben seinem Studium in Hamburg regelmäßig auf dem naturbelassenen Hof
       mitarbeitet.
       
       Die nicht kommerzielle Ausrichtung der Tomatenretter sei über die Jahre
       eher durch Zufall entstanden, sagt Kunath. Besonders auf eine ausgeglichene
       Haushaltsführung des Gemeinschaftsprojekts werde stets geachtet. „Wer
       Schulden macht, hängt systemisch besonders fest“, sagt er. Deswegen werde
       meist eher in die Reparatur von Dingen investiert als in einen Neukauf.
       
       ## Die Herrschaft der Konzerne überwinden
       
       Die Tomatenretter verstehen sich als „herrschaftsüberwindende“ Institution.
       Sie setzen sich für ökologische Nachhaltigkeit ein und positionieren sich
       gegen jegliche Form von Rassismus, Sexismus, Nationalismus sowie
       patriarchale Strukturen. „Es reicht uns nicht, eine solidarische
       Landwirtschaft zu sein“, sagt Kunath. Das Ziel sei, eine
       „Saatgutsouveränität“ in zweifacher Hinsicht zu entwickeln: Die
       Tomatenretter wollen die Sortenvielfalt bewahren und die Abhängigkeit von
       Großkonzernen beenden.
       
       Diese [4][Abhängigkeit der Landwirt:innen von großen Konzernen] hat in
       den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen. Im konventionellen
       Tomatenanbau werden vor allem [5][sogenannte F1-Hybride] verwendet. Dieser
       Samentyp ist zwar im ersten Anpflanzungsjahr sehr ertragreich und
       lagerfest, doch im Folgejahr sind die Samen des Gemüses für den Wiederanbau
       nicht mehr brauchbar, wie Kunath erklärt: „Die Laborentwicklung der Samen
       bewirkt, dass instabile Ergebnisse erzielt werden.“
       
       Das bleibt nicht ohne Folgen: Weil Landwirt:innen für eine ertragreiche
       Ernte jährlich neue Samen bei Großkonzernen kaufen müssen, ist es laut
       Kunath zum Geschäftsmodell geworden, diese in Kombination mit
       umweltschädlichen Pestiziden und Fungiziden zu verkaufen: „Es werden
       [6][Konzepte statt Samen] verkauft.“ Dadurch würden die Landwirte immer
       abhängiger von den Saatgut-Konzernen, so „wie wir Verbraucher vom
       Supermarkt abhängig sind“. Kleinbetriebe würden statt des Gemüsesaatguts
       oft bereits fertige Jungpflanzen bei den großen Konzernen kaufen, weil die
       Produktion für die Landwirt:innen aufgrund des wirtschaftlichen Drucks
       und der Arbeitsteilung nicht mehr profitabel ist.
       
       Aussichtslos sei die Situation aber nicht, betont Kunath. Eine
       Saatensouveränität vor Ort sei möglich, jedoch nur durch ein öffentlich
       zugängliches und umfassendes Saatgutarchiv. Die Sammlung des Vereins
       umfasse mittlerweile rund 440 verschiedene Tomatensorten, welche regelmäßig
       auf ihren Geschmack sowie ihre Keimfähigkeit getestet werden. Einige
       „milde“ Sorten müssten deshalb auch mal durch neue Sorten ausgetauscht
       werden, erklärt Kunath: „Im Grunde wollen wir aber die Gemüsevielfalt
       fördern und nicht nur fragen: Was schmeckt am besten?“ Spezialisiert habe
       sich die Gruppe auf das rote Gemüse, weil es in der deutschen
       Ernährungsgewohnheit fest verankert und geschätzt ist: „Wir könnten auch
       Gurkenretter sein“, sagt Kunath.
       
       Auf der rund 1,3 Hektar großen Fläche des Hofes werden neben
       Selbstversorger-Gemüse und Wildpflanzen jedes Jahr etwa 1.800
       Tomaten-Jungpflanzen „in chemiefreier, ökologischer und bodenaufbauender
       Produktionsweise“ angebaut, so Kunath, die schließlich den vielfältigen
       „Tomatendschungel“ des Vereins bilden. Im Schnitt können die Mitglieder so
       jedes Jahr zwei Tonnen des Gemüses ernten. Überschüssige Ernte und das aus
       den Tomaten gewonnene Saatgut verteilen die Ehrenamtlichen gegen eine
       Spende an Menschen in Hamburg.
       
       Obwohl das Projekt auf positive Resonanz stoße, fehle eine breite und
       engagierte Öffentlichkeit, sagt Kunath. In Deutschland gebe es weder eine
       vernünftige Saatgut-Kampagne noch eine entsprechende Politik. Die Arbeit
       bleibe so meist an kleinen Vereinen wie den „Tomatenrettern“ hängen.
       Lediglich die österreichische „Arche Noah“ engagiere sich auf EU-Ebene für
       das Anliegen, habe gegen die weitaus größere Saatgut-Lobby jedoch wenig
       Einfluss, sagt Kunath. Auf Bundesebene in Deutschland setzt sich der
       „Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt“ für eine souveräne
       Saatgutpolitik und vereinfachte Neuzulassungen ein.
       
       Um den Hof auch in Zukunft als solidarisches und unkommerzielles Projekt
       weiterführen zu können, haben die Tomatenretter entschieden, das genutzte
       Pachtgrundstück zu kaufen. So wollen sie es dauerhaft der privaten
       Verwertung und kapitalistischen Landnahme entziehen. Bereits im vergangenen
       Jahr gründeten sie den „Solidarischen Hof Marschlande“, damit der
       Grundeigentümer vom eigentlichen Betrieb getrennt ist.
       
       ## Überwacht vom Ackersyndikat
       
       Über die Vergemeinschaftung des Hofes sowie alle Bestimmungs- und
       Erhaltungsangelegenheiten soll das „Ackersyndikat“ wachen, das zugleich
       Mitglied im Verein sein wird. Dieser dezentrale Solidarverbund von
       selbstorganisierten und unabhängigen Höfen ist 2020 durch die Kombination
       der Ideen der solidarischen Landwirtschaft und des Mietshäuser-Syndikats
       entstanden. So soll der Kauf von beteiligten Höfen durch
       Nichtlandwirt:innen dauerhaft unterbunden werden.
       
       Finanziert wird das Vorhaben – komplett unabhängig von Geldinstituten – vor
       allem aus Vereinsmitteln, mithilfe der Fördermitglieder, durch Spenden und
       zinslose Direktkredite. Der Landkauf sei allerdings noch nicht ganz in
       trockenen Tüchern, betont Kunath. Zwar sei der Kauf zwischen Verkäufer und
       dem Verein bereits geregelt, die Stadt Hamburg prüfe derzeit aber noch, ob
       sie von ihrem Vorkaufsrecht Gebrauch macht.
       
       Den Hof der Tomatenretter zu kollektivieren und zu einem unverkäuflichen
       Gemeineigentum zu machen, diene vor allem dem sozialen und rechtlichen
       Selbstschutz der Solidarwirtschaft, sagt Kunath. Man habe in den
       vergangenen Jahrzehnten erfahren, „dass sich linke Projekte später wieder
       reprivatisiert haben“. Weil viele Einzelpersonen nach einiger Zeit dann
       doch lieber profitorientiert weiterarbeiten wollten.
       
       22 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] /Kritik-an-Agrarminister-wegen-Gentechnik/!5958823
 (DIR) [5] /Saatgut-mit-Open-Source-Lizenz/!5412377
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       ## AUTOREN
       
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